Migrantische politische Bildung für eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft
Was verstehen wir unter „migrantischer politischer Bildung“? Politische Bildung für Migrant*innen? Oder migriert die politische Bildung? Das Projekt und seine Herangehensweise ist aus der bisherigen Arbeit der Migrantenselbstorganisation La Red (spanisch für: das Netz) erwachsen. La Red wurde 2013 mit dem Ziel gegründet, Zugewanderte darin zu unterstützen, sich in der Gesellschaft entfalten und eigene Ideen realisieren zu können. Der anfängliche Fokus auf die spanischsprachige Community erweiterte sich schnell und La Red wurde zu einer vielsprachigen und communityübergreifenden Migrant*innenselbstorganisation (MSO). Die Zielgruppe wurde noch vielfältiger, als sie bis dahin schon war. Diese Diversität bringt immer wieder neue Anforderungen, Fragen, Bedarfe und Rahmenbedingungen mit sich. Das spiegelt sich in der Arbeit von La Red wider. Zum Beispiel in den analogen und digitalen Ansätzen zu Migration und Partizipation; in den multiperspektivischen Zugängen zu Demokratie, Migration und Zuwanderung; in der Zugänglichkeit von Angeboten; in der Arbeit gegen Rassismen sowie in der Stärkung migrantischer Netzwerke durch Empowerment, Selbstermächtigung und politische Bildung.
Politische Bildung für Migrant*innen
Politische Bildung will Menschen darin unterstützen, eigenverantwortlich handelnde, demokratisch orientierte Subjekte in der Gesellschaft zu werden, sie also zur Mündigkeit befähigen. Es geht um Teilhabe, um die Gestaltung des gesellschaftlichen sowie des eigenen Lebens. Doch an welche Menschen richtet sie sich? An die gesamte in Deutschland lebende Bevölkerung? Vorzugsweise an bestimmte Menschen? Wie können die jeweiligen Adressat*innen wirklich erreicht werden? Diese Herausforderungen stehen im Fokus akademischer und praktischer Debatten der politischen Bildung. Seit den 1970er Jahren diskutiert die Erwachsenenbildung unter verschiedenen Schlagworten darüber u. a. als Teilnehmer*innenorientierung, Adressaten*innenorientierung, Zielgruppenorientierung und im letzten Jahrzehnt als inklusive politische Bildung.
Trotz der insgesamt deutlich gestiegenen Bildungsbeteiligung, öffentlicher Förderung, bildungspolitischer Appelle und einem breiten gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens für alle, ist es bis heute nicht gelungen, eine gleichberechtigte Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen zu verwirklichen – auch nicht in der politischen Bildung. Das wirft viele Fragen auf: Warum ist es so schwierig, unterschiedliche Menschen anzusprechen? Wie spiegelt sich gesellschaftliche Diversität in den bestehenden Ansätzen und Zugängen der politischen Bildung wider? Welche Bedingungen braucht es, damit Menschen Angebote der politischen Bildung wahrnehmen bzw. als lohnend erachten? Diese Fragen und Debatten sind elementarer Bestandteil des Projekts „Migrantische politische Bildung – Diversität in Bildungsformaten für eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft“ (MipoBi), das von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wird. Dieses Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, neue, innovative und diverse Angebote und Zugänge der politischen Bildung zu entwickeln, die die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft abbilden. Ein Teilziel ist es, neue Individuen und Zielgruppen anzusprechen, die bisher nicht oder nur wenig erreicht wurden.
Erste Schritte und Erkenntnisse
Ausgangspunkt des Projekts ist das Bewusstsein von der Heterogenität von Menschen, die Migrant*in-Sein als Teil ihrer Identität begreifen oder unabhängig von ihrer selbst definierten Identität als Migrant*in gelesen werden. Zudem setzen wir mit unseren Überlegungen an der Tradition und den Entwicklungslinien der politischen Bildung an. Die Kombination aus einem Bewusstsein für Diversität(en) und einem Verständnis für die Diskurse und Ansätze der politischen Bildung bündeln wir in einem eigenen Ansatz. Dabei setzen wir uns mit der Teilnehmer*innenorientierung (vgl. z. B. Siebert 1980), der Adressat*innenorientierung (vgl. Hippel u. a. 2018; Popescu-Willigmann 2020), der Zielgruppenorientierung (vgl. Schäffter 1991) und der inklusiven politischen Bildung (vgl. Hölzel/Jahr 2019; Dönges u. a. 2015) auseinander.
Wir greifen auf Elemente aus diesen Bereichen zurück und fügen sie zu einem eigenen Ansatz inklusiver politischer Bildung zusammen. Es geht dabei nicht um Spezialdidaktiken für spezifische Zielgruppen wie Migrant*innen, Politikferne, sozioökonomisch Benachteiligte usw. Vielmehr liegt unser Fokus darauf, sich gezielt mit den Zugangsschwierigkeiten zu beschäftigen, die Menschen davon abhalten, Angebote politischer Bildung wahr- bzw. anzunehmen, um Angebote zu entwickeln und Hindernisse abzubauen. Denn inklusive politische Bildung hinterfragt festgesetzte Differenzlinien, anhand derer Adressat*innen und Zielgruppen bestimmt werden.
Unser Ansatz möchte Wege eröffnen, wie die Heterogenität der Gesellschaft in einer für die politische Bildung sinnvollen Art und Weise berücksichtigt werden kann. Ausschlaggebend ist, dass die Anerkennung und der konstruktive Umgang mit der Faktizität von Heterogenität innerhalb der politischen Bildung alternativlos ist. Daraus folgt, dass es ein vielfältigeres und in jeder Hinsicht diverseres Spektrum an Angeboten und Zugängen braucht, um einen breiteren Teil der Gesellschaft zu erreichen. Dafür ist es notwendig, die Differenzlinien, anhand derer Adressat*innengruppen gebildet werden, so festzulegen, dass diese
- ein geringes oder gar kein Risiko des Othering besitzen, möglichst nicht an Diskriminierung gekoppelt sind,
- Kriterien betreffen, anhand derer Hindernisse abgebaut werden können, die es schwer machen, diese Gruppe zu erreichen,
- Eigenschaften ansprechen, die nötig sind, um eine Passung zwischen Angebot und Adressat*in herzustellen.
Aber was bedeutet das? Beispielsweise bei Angeboten und Ansprachen mitzudenken, ob die Differenzlinie Migrationshintergrund berücksichtigt werden soll oder ob andere diese ergänzen oder ersetzen. Es bedeutet also, Menschen gezielter über eine Vielzahl von Interessen, Merkmalen und Bedürfnissen zu adressieren. Differenzlinien sind fluide und unterliegen fortdauernden Wandlungsprozessen. Das bedeutet, dass eine Differenzlinie, die für ein Angebot wichtig erscheint, für ein anderes nicht relevant sein muss. Um eine differenziertere Betrachtung zu ermöglichen, stützen wir uns auf das trilemmatische Model von Inklusion (vgl. Boger 2019). Unser Ansatz lebt darüber hinaus von dem sensiblen Umgang mit Diversität und Exklusionsmechanismen sowie vom Handwerkszeug diskriminierungskritischer politischer Bildung.
Die Frage, ob wir unter migrantischer politischer Bildung politische Bildung für Migrant*innen, eine Migration in der politischen Bildung oder etwas ganz anderes verstehen, bleibt erstmal offen. Die ersten Erkenntnisse wird La Red Mitte 2021 publizieren. Zudem fließen sie direkt in die Angebote der politischen Bildung ein, die im Projekt konzipiert und realisiert werden.
Literatur
Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfram/Zurstrassen, Bettina (2015): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn.
Boger, Mai-Anh (2019): Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken. Münster.
Hippel, Aiga von/Tippelt, Rudolf/Gebrande, Johanna (2018): Adressaten-, Teilnehmer- und Zielgruppenforschung in der Erwachsenenbildung. In: Tippelt, Rudolf/Hippel, Aiga von (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden, S. 1131–1147.
Hölzel, Tina/Jahr, David (Hg.) (2019): Konturen einer inklusiven politischen Bildung: Konzeptionelle und empirische Zugänge. Wiesbaden.
Popescu-Willigmann, Silvester (2020): Adressatenorientierung in der Erwachsenenbildung mit Geflüchteten aus Sicht des Bildungsmanagements. Download: https://tinyurl.com/d469wa2r
Schäffter, Ortfried (1991): Zielgruppenorientierung in der Erwachsenenbildung. Braunschweig.
Siebert, Horst (1980): Teilnehmerorientierung als eine didaktische Legitimationsgrundlage. In: Olbrich, Josef (Hg.): Legitimationsprobleme in der Erwachsenenbildung. Stuttgart, S. 113–133.
Zitation:
Guzmán de Rojas, Claudia (2021). Migrantische politische Bildung für eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft, in: Journal für politische Bildung 3/2021, 52-53.
Die Autorin
Claudia Guzmán de Rojas, Diplom-Juristin, M.A. Friedens- und Konfliktforschung, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt MipoBi bei La Red e. V.