Mehrfachteilnahme am Bildungsurlaub

Bildungsurlaub bzw. Bildungsfreistellung ist zwar mittlerweile in 14 Bundesländern gesetzlich geregelt, wodurch der überwiegende Teil der Erwachsenen ein Recht auf Bildung erhält. Allerdings nehmen nach wie vor nur ein bis zwei Prozent der Berechtigten an entsprechenden Veranstaltungen teil. Ein Umstand, der die Arbeitgeber bereits 1980 feststellen ließ: „Die politische Zielvorstellung, daß Bildungsurlaub auch dazu geeignet sein soll, an Weiterbildungsmaßnahmen in breiterem Maße heranzuführen, wird durch die bisherigen Erfahrungen nicht bestätigt“ (Deutsche Arbeitgeberverbände 1980, zit. in Degen 1983: 46 f.). Die Wirkung des Instruments, dessen erklärtes Ziel es ist, auch Bildungsbenachteiligte anzusprechen und ihnen damit gesellschaftliche, politische, berufliche und kulturelle Partizipationsmöglichkeiten zur eröffnen, wurde und wird weiterhin bezweifelt.


Hier sollen erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts vorgestellt werden, das im Rahmen einer qualitativ-explorativen Studie die langfristigen und nachhaltigen biographischen Wirkungen der Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen untersucht. Dabei werden u. a. ca. 20 Personen (aus Rheinland-­Pfalz und Hamburg) interviewt, die mindestens dreimal ihren Anspruch auf Bildungsfreistellung wahrgenommen haben. Die Studie mit dem Titel „Bildungsfreistellung: Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Strukturelle und biographische Aspekte zum Lernen im Lebenslauf“ wird vom Hamburger Institut für berufliche Bildung und dem Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur in Rheinland-Pfalz finanziert (vgl. Pabst 2017).

Unserem forschungsleitenden Interesse liegt die Frage zugrunde, welche langfristigen, subjektiven, (bildungs-)biographischen Wirkungen und Effekte die Mehrfachteilnahme an Veranstaltungen der politischen und/oder der beruflichen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellungsgesetzen hat.

Wirksamkeit oder Wirkungen?
Die Forschungsfrage nach Bildungswirkungen wird sehr kontrovers diskutiert. Einerseits wird angenommen, dass Lernerfolge messbar sind und sich über standardisiertes Abfragen in Skalen und Tabellen usw. unmittelbar darstellen lassen. Andererseits wird die Möglichkeit, Wirkungen von Bildungs- oder Lernprozessen nachweisen zu können, kategorisch ausgeschlossen (vgl. bspw. Hufer in diesem Journal). Die Wahrheit liegt vermutlich zwischen diesen Polen.

Grundlage unseres Forschungsansatzes ist die optimistische Annahme, dass Lern- und Bildungsprozesse durchaus kurz- und langfristige Wirkungen bei lernenden Subjekten zeitigen können. Wir unterscheiden daher zwischen Wirksamkeit und Wirkungen.

  • Unter Wirksamkeit werden Leistungsfähigkeit, Wirkungsgrade und Effektivität verstanden. Es wird angenommen, dass diese als Veränderungen prinzipiell messbar sind.
  • Fragt man dagegen nach Wirkungen, stehen vielmehr Konsequenzen, Folgeerscheinungen, Nachwirkungen und Auswirkungen von Lern- und Bildungsprozessen im Mittelpunkt.

Wir legen unserer Erhebung über Mehrfachteilnehmende an Bildungsfreistellungsveranstaltungen das zuletzt genannte Verständnis von Wirkungen zugrunde. Wir vermuten diese, gehen allerdings nicht von unmittelbaren und gradlinigen Ursache-Wirkungs-Ketten aus, sondern berücksichtigen, dass neben gezielt ausgesuchten und besuchten Bildungsangeboten vielfältige – auch informelle und en passant genutzte – Informationsmöglichkeiten zur Bildung des Subjekts, zur Subjektwerdung und Personalisation beitragen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Wissensaneignung bieten Anlässe und Gelegenheiten zum Austausch, zur Reflexion von Erfahrung, zum Verstehen und Begreifen und auch zur Erweiterung von Handlungspraktiken.


Wie beeinflusst Bildungsurlaub langfristig die biographische Entwicklung eines Menschen – hinsichtlich seiner inneren und äußeren Welt?



Bildungs- und Lernwirkungen beziehen sich auf Dimensionen wie Wissen, Denken, Urteilen, Handeln und Verhalten. In jeder dieser Dimensionen sind Veränderungen denkbar, unmittelbar bezogen auf das lernende Subjekt. Ebenso können Veränderungen im Handeln das nähere und weitere Umfeld beeinflussen. Uns interessiert, ob und wenn ja, in welcher Hinsicht die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellungen die biographische Entwicklung eines Menschen beeinflusst und welche Wirkungen sie langfristig zeitigen.

Erhebungssample
Wir haben bisher neun Personen in Rheinland-Pfalz befragt, die in einem Zeitraum von drei bis 38 Jahren zwischen drei und 37 Bildungsfreistellungsveranstaltungen besucht haben.

Die von uns befragten Mehrfachteilnehmenden sind sehr bildungsaffin und nehmen neben Bildungsfreistellungsangeboten häufig weitere berufliche, betriebliche, allgemeine oder gesellschaftspolitische Bildungsangebote wahr. Die hohe Bildungsaffinität ist sicherlich der gezielten Auswahl von Mehrfachteilnehmenden geschuldet.

Erste Ergebnisse
Bisher haben wir sechs Interviews zum einen mit Blick auf die Rahmenbedingungen der Teilnahme ausgewertet. Zum anderen analysieren wir die subjektive Einschätzung der Lern- und Bildungsprozesse und deren Folgen und Wirkungen, die sich aus dem Besuch der Veranstaltungen ergeben haben. Wir gehen davon aus, dass diese nur in einem gemeinsamen rekonstruktiven Prozess mit den lernenden Subjekten erkennbar und verstehbar sind. Dabei unterscheiden wir analytisch zwischen Lern- und Bildungsinteressen, Lern- und Bildungserfahrungen sowie -ergebnissen und langfristigen (biographischen) Lern- und Bildungswirkungen. Diese Unterscheidung signalisiert, dass Lern- und Bildungsinteressen, die Ausgangspunkt eines Lern- und Bildungsprozesses sein können, nicht zwangsläufig zu nachhaltigen Lern- und Bildungswirkungen führen müssen.

Lern- und Bildungsinteressen
Inhaltlich sind die Lern- und Bildungsinteressen bedeutungsvoll, da sie den Einstieg in die Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung markieren. Neben Personen des näheren Umfeldes, die dazu anregen, die Bildungsfreistellung in Anspruch zu nehmen, führen vor allem als persönlich besonders relevant erachtete Lerninteressen (Lernanlässe/Diskrepanzerfahrungen) zur Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen. In den Interviews wurde u. a. das Interesse an neuem his­torischen Wissen, an arabischen Gesellschaften, an Demokratisierungsprozessen sowie an Religion thematisiert.

Die Teilnahme an berufsbezogener Weiterbildung wird häufiger begründet mit Diskrepanzerfahrungen im aktuell konkreten beruflich-betrieblichen Handeln. Diskrepanzerfahrungen erleben Befragte auch im sozialen Umgang ihres Betriebs, weshalb Seminare zu Konfliktmanagement und Beratung besucht werden.

Lern- und Bildungserfahrungen sowie Lern- und Bildungsergebnisse
Wird der Fokus auf Lern- und Bildungserfahrungen gerichtet, dann stehen emotionale Aspekte bezogen auf den Lerngegenstand, die Lerngruppe und die lernende Person selbst im Vordergrund. Es werden Momente und Dinge erinnert, die berühren und ansprechen, die am eigenen Leib erfahren werden. Die Interviews zeigen: Es geht darum, etwas zu begreifen oder ein Gefühl für etwas zu entwickeln. Lehr-Lern-Formen, die den Erfahrungsaustausch fördern, eine gemeinsame, eigenständige Wissensaneignung ermöglichen und kreative Aneignungsformen berücksichtigen, werden dabei besonders geschätzt. Lernen wird v. a. mit Spaß assoziiert:

„Ja. Für mich ist es quasi kein stures Lernen […]. Also eher was Entspannteres, ohne dass der Aspekt Bildung hinten runterfällt. Sondern es ist, also es hat genau den gleichen Hintergrund. Es bleibt aber besser im Kopf, weil ich sitze nicht stur da und lerne auswendig. […] Genau, das ist ein ganz lebendiges Lernen, ja“ (Zitat Interview 1).

Bezogen auf die Bildungsreisen werden Aspekte wie der Austausch und die Begegnung mit Menschen vor Ort, die von ihrem eigenen Tun und ihrem Leben berichten und mit denen man ins Gespräch kommen kann, hervorgehoben. Typisch und als besonders fruchtbar wird für Bildungsreisen das „Hinter-die-Kulissen-Schauen“ eingeschätzt. Bildungsreisen werden in den Interviews als alternativlos und einzigartig bezeichnet, sodass sich der Anspruch an das Reisen insgesamt verändern kann.

Hinzu kommt das Erleben von Momenten vielfältiger Horizonterweiterungen. Befragte gewinnen für sich tiefe politische Einsichten, Erweiterungen der eigenen Urteilskraft im Kontext sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Prozesse oder sie entwickeln tiefergehende Erkenntnisse über ihre eigene kulturelle Identität. Die Teilnahme an Bildungsfreistellungs­angeboten wird auch als „Rüstzeug“ und „Arbeitszeug“ (Zitat Interview 4) für den beruflich-betrieblichen Alltag verstanden. Es geht um das positive Erleben von Erweiterungen nicht nur der persönlichen Welt- und Selbstverfügung, sondern auch bezogen auf beruflich-betriebliche Herausforderungen oder auf die eigene Interessenvertretung. Darüber hinaus verbinden sie mit der Teilnahme Vorteile für das eigene Fortkommen – mit Blick auf mögliche Beförderungen oder zukünftige Bewerbungen.

Langfristige (bildungs-)biographische Wirkungen
In einigen Fällen sind langfristige biographische Wirkungen durch die Teilnahme an Bildungsfreistellungen zu verzeichnen. So hat eine Person, angeregt durch andere Lehr-Lern- und Aneignungsformen, ihre schulische Lernunlust und -aversion überwunden; sie nimmt nicht nur jedes Jahr ihr Bildungsfreistellungsrecht in Anspruch, sondern besucht auch weitere gesellschaftspolitische Bildungsseminare. Darüber hinaus plant sie, ein Studium aufzunehmen. Eine andere Person gibt an, dass ihr die Erfahrungen in Bildungsfreistellungsveranstaltungen wichtige Orientierungen und neue Perspektiven verschafft haben, die zu grundlegenden biographischen Veränderungen führten. Bei anderen Interviewten ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob die Teilnahme an Bildungsfreistellungen eine Folge ihrer ohnehin bereits hohen Bildungsaffinität war oder deren Ursache. Sie berichten aber alle von Bildungsinteressen, die lebensbegleitend Einfluss auf berufliche und private Entwicklungen hatten. Sie integrieren die Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen in ihren Lebenslauf als festen Bestandteil ihrer lebensentfaltenden Bildungsprozesse.

Bildungsfreistellung wird von den Befragten sehr aktiv als Eigenzeit genutzt, sie ist ein Moratorium, in dem die Zeit stillsteht und sich gleichzeitig ausdehnt. Sie ermöglicht, sich ganzheitlich auf ein Thema einlassen und alle Verpflichtungen der Erwerbsarbeit und des Alltags hinter sich lassen zu können. Die Aussage „Eine Woche Bildungsreise kann sich anfühlen wie drei Wochen weg sein“ (Zitat Interview 3) zeigt, dass sich das subjektive Zeiterleben durch intensive Bildungserfahrungen verändern kann. Bildung wird subjektiv mit neuen Bedeutungen belegt. Aber ihr Wert wird auch im gesellschaftlichen Zusammenhang als eine Notwendigkeit und als das Recht aller angesehen. In diesem Sinn plädiert einer unserer Interviewpartner:

„Und auch Leute, die jetzt nicht unbedingt so gebildet sind, ja, also ich will die Leute nicht als dumm bezeichnen oder so, weil das ist niemand, ja? Es gibt keinen dummen Menschen. Es gibt nur Leute, die sich nie richtig mit Bildung beschäftigt haben. Und deswegen finde ich es superwichtig, sich mit dem Thema Bildung zu beschäftigen, das zu streuen, die Leute mitzunehmen und Leuten zu sagen, wie cool Bildung einfach ist“ (Zitat Interview 1).

Resümee
Unsere bisherigen Ergebnisse bestätigen, dass Bildungsfreistellung zu verstehen ist als Bildungszeit und als Zeit für Bildung. Sie ist nach wie vor das einzige Instrument, das von allen Arbeitnehmer/-innen genutzt werden kann, um sich eine Auszeit für Bildung zu nehmen. Betriebliche Weiterbildung verfolgt andere Ziele, ist hoch selektiv und funktionsbezogen. Bildungsfreistellung wird dagegen entsprechend ihrer ursprünglichen Idee Ausgangspunkt für Bildungsprozesse, die Menschen dazu befähigen, Interessen zu entwickeln und begründet in subjektive Lernprozesse einzutreten, die nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu Veränderungen führen können.


Literatur
Degen, Günther R. (1983): Zur Situation und zum aktuellen Entwicklungsstand des Bildungsurlaubs. In: Dobischat, Rolf/Wassmann, Herbert: Bildungsurlaub. Probleme, Perspektiven und Konzepte. Bad Honnef, S. 41 – 89.

Pabst, Antje (2017): Bildungsurlaub: Eigenzeit für Bildung mit biographisch nachhaltiger Wirkung? Eine qualitative Studie. In: Journal für politische Bildung, Heft 2, S. 41 – 47.

Zeuner, Christine (2017): Bildungsurlaub: Begründungen, Konflikte und Perspektiven. In: Journal für politische Bildung, Heft 2, S. 26 – 33.

Zeuner, Christine/Pabst, Antje (2018): Eigenzeit für Bildung: Nachhaltige biographische Wirkungen. Vortrag zur Fachtagung „Bildungszeit sichert Zukunftschancen! 25 Jahre Bildungsfreistellung in Rheinland-Pfalz“ am 12.4.2018 in Mainz, https://tinyurl.com/eigenzeit-jpb (abgerufen am 01.06.2018).

Zitation:
Zeuner, Christine & Pabst, Antje (2018). Mehrfachteilnahme am Bildungsurlaub. Bildungsbiographische Wirkungen, in: Journal für politische Bildung 3/2018, 34-39.

Die Autorinnen

Prof. Dr. Christine Zeuner ist Professorin für Erwachsenen­bildung an der Helmut-­Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und Mitglied der Journal-Redaktion. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind politische Erwachsenenbildung, Internatio­nale Erwachsenenbildung sowie Literalität und Grundbildung.

Dr. des. Antje Pabst, Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, ist wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Erwachsenenbildung der Helmut-Schmidt-­Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind das Lernen Erwachsener, Beruf und Beruflichkeit im Wandel der Zeit sowie Literalität und Grundbildung.

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