Gesellschaftsdiagnosen in der Praxis

In der Rubrik BildungsPraxis wird die Relevanz von, der Umgang mit und die pädagogische Konsequenz von Gesellschaftsdiagnosen für die pädagogische und politisch-bildnerische Praxis beschrieben. Neben allgemeinen Überlegungen zur Bedeutung von Gesellschaftsdiagnosen für die politische Bildungspraxis wird der Bezug konkreter Bildungsarbeit zu Gesellschaftsdiagnosen in Programmatik, Bildungsinhalten, Methoden usw. anhand dreier Bildungsträger vorgestellt. Dies sind:

1) Das Konzeptwerk Neue Ökonomie, das sich u. a. an den Diagnosen der multiplen Krisen und der imperialen Lebensweise orientiert.
2) Die Bildungsstätte Anne Frank, die sich auf Gesellschaftsdiagnosen bezieht, in denen Antisemitismus und Rassismus als gesamtgesellschaftliche Phänomene aufgefasst werden.
3) Die Bildungsstätte Alte Schule Anspach, die sich in einem neuen Projekt dem Themenfeld Digitalisierung und neue Technologien widmet.

Gesellschaftsdiagnosen haben in der Wissenschaft in den letzten Jahren vermehrt an Einfluss und Wichtigkeit gewonnen. Diese Konjunktur ist vor allem auf verschiedene gesellschaftliche Krisenphänomene zurückzuführen, wie zum Beispiel auf die „Krise der Finanzmärkte“, die „Krise der Demokratie“ oder die „Krise der Repräsentation“. Gesellschaftsdiagnosen verfolgen das Ziel, eine umfassende Deutung der Zeit vorzulegen, um so das für die Gesellschaft Charakteristische auf den Punkt zu bringen.

Gesellschaftsdiagnosen sind nicht nur für Soziolog/-innen und Politikwissenschaftler/-innen relevant, sie haben ebenso eine vielschichtige Bedeutung für die pädagogische Arbeit und die Theorie sowie Praxis der politischen Bildung. Seit jeher sind pädagogische und didaktische Konzepte, bildungspraktische Methoden und Seminargestaltungen auf gesellschaftliche Entwicklungen bezogen worden. Dies gilt bspw. dann, wenn in außerschulischen Jugendbildungsseminaren das Ziel „politische Partizipation“ in den Mittelpunkt gestellt und damit begründet wird, junge Menschen hätten in der Gesellschaft zu wenige Möglichkeiten, sich niedrigschwellig und lebensweltbezogen politisch einzumischen.

Ebenso kann auf den Wandel von Partizipationsformen und -verständnis verwiesen werden: Junge Menschen beteiligen sich weniger in konventionellen Politik- und Partizipationsformen – wie Wahlen, Parteien und Gewerkschaften – und vermehrt in unkonventionellen Bereichen wie sozialen Bewegungen, im Internet oder durch nachhaltigen und biologischen Konsum. In vielen Projekten wurde und wird in der Bildungspraxis versucht, diesen Diagnosen Rechnung zu tragen. Dabei wird jungen Menschen, darunter viele sogenannte bildungsbenachteiligte Jugendliche, denen ein geringes politisches Interesse und wenig politische Partizipation zugeschrieben wird, die Möglichkeit zu eigenem lebensweltbezogenem politischem Handeln gegeben und pädagogisch begleitet.

Konzeptwerk Neue Ökonomie

Herrschaftskritische Gesellschaftsdiagnosen
Max Frauenlob hat in Marburg und Frankfurt/M. Soziologie studiert und sich dabei unter anderem mit Bildung für eine sozial-ökologische Transformation beschäftigt. Im Konzeptwerk Neue Ökonomie liegt sein Schwerpunkt im Themenspektrum transformativer Bildung, Solidarischer Ökonomie und Sozialer Innovationen. Er arbeitet als Referent für Workshops und Seminare sowie an der Entwicklung von Methoden für die Bildungsarbeit.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie arbeitet auf der Basis herrschaftskritischer Gesellschaftsdiagnosen, die in Wirtschaft und Gesellschaft grundlegende Probleme und eine Vielfachkrise der kapitalistisch geprägten Gesellschaften identifizieren. Der Verein sieht sich als ein Teil der „Degrowth-Bewegung“ und zielt mit seiner Arbeit darauf, Perspektiven dieser Bewegung zu stärken. „Degrowth beinhaltet für uns eine Kritik an wirtschaftlichem Wachstum und eine grundlegende sozial-ökologische Transformation, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen“, sagt Max Frauenlob vom Konzeptwerk. Auf der Basis solcher Diagnosen orientiert sich die Organisation an der Kritik imperialer Produktions- und Lebensweisen, da diese die strukturelle Eingebundenheit der Individuen in Ausbeutungsverhältnisse in den Blick nimmt und die Notwendigkeit anderer Wohlstandsverständnisse verdeutlicht. Frauenlob berichtet: „Für uns sind herrschaftskritische Gesellschaftsdiagnosen eine wichtige Orientierung. Dies beinhaltet die Kritik an (globaler) sozialer Ungleichheit und allgemein an Ungleichheitsmechanismen wie Rassismus oder Sexismus. Hier sind für uns intersektionale Perspektiven, die das Zusammenwirken verschiedener Ungleichheitsmechanismen in den Blick nehmen, zentral“.

Dieser Diagnose stehen Menschen jedoch nicht machtlos gegenüber, vielmehr ist es möglich, die Verhältnisse zu verändern, und, so das Konzeptwerk, durch eine „revolutionäre Realpolitik“ (Rosa Luxemburg) die gesellschaftliche Funktionslogik schrittweise zu verbessern.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist eine unabhängige und gemeinnützige Organisation mit Sitz in Leipzig, die sich seit 2011 für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft einsetzt.

Das Konzeptwerk freut sich über Kooperationen mit anderen Akteuren im Bereich der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), des Globalen Lernens und politischer Bildung. Es bietet in Kooperation Workshops und Seminare an oder führt Fortbildungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten durch. Ein Überblick über Programmatik, Projekte, Bildungsveranstaltungen und Bildungsmaterialien zum Download findet sich auf der Webseite.

Kontakt: www.konzeptwerk-neue-oekonomie.org

Für das Konzeptwerk bieten Gesellschaftsdiagnosen eine wichtige Hintergrundorientierung für die Bildungsarbeit, so Frauenlob. Das zentrale Ziel sei, bei Teilnehmenden kritisches Denken zu fördern, zur Selbstreflexion anzuregen und alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auf der Basis der Gesellschaftsdiagnosen will das Konzeptwerk Ansätze einer emanzipatorischen Bildung im Kontext sozial-ökologischer Transformation entwickeln.

Frauenlob reflektiert das Verhältnis von Zielgruppen und den Gesellschaftsdiagnosen des Konzeptwerks kritisch: „Einerseits möchten wir möglichst Alle mit unserer Bildungsarbeit erreichen, um Ausschlüsse zu vermeiden und insbesondere von Ungleichheitsverhältnissen Betroffene nicht zu vernachlässigen. Andererseits setzen einige unserer Bildungsformate eine gewisse Vorsensibilisierung und eine hohe Bereitschaft, sich aktiv auf den Lernprozess einzulassen, voraus. Hier schließt die Frage nach geeigneten Lernorten und Settings für transformatives Lernen an – dieses braucht Raum und Zeit und lässt sich nicht ohne weiteres etwa in den bestehenden Schulalltag integrieren“.

In dem Projekt „Endlich Wachstum“ ist ein Methodenportal integriert, das gemeinsam mit der Partnerorganisation Fairbindung e. V. betrieben wird. Zudem sind zwei Methodenhefte erschienen. Alle Informationen und Materialien stehen kostenlos unter www.endlich-wachstum.de zur Verfügung. Regelmäßig werden Fortbildungen für Multiplikator/-innen angeboten.

In der konkreten Bildungsarbeit orientiert sich das Konzeptwerk an dem Ansatz der mentalen Infrastrukturen (Harald Welzer). Mentale Infrastrukturen beschreiben, wie das Bewusstsein – ähnlich wie materielle Infrastrukturen – den Alltag der Menschen und das, was als ‚normal‘ angesehen wird, prägen. „Die Reflexion bestimmter mentaler Infrastrukturen des Wachstums wie Naturbeherrschung, Konkurrenz oder Selbstoptimierung ist ein wesentlicher Bildungszugang, die die Lernenden mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung setzt. Wir arbeiten mit Methoden, die über kognitives Lernen hinausgehen, etwa aus dem Bereich der Erlebnis- oder Theaterpädagogik“.

Das Konzept der mentalen Infrastrukturen, das ins Verhältnis zu den Gesellschaftsdiagnosen gesetzt wird, hat Auswirkungen auf die Methoden, die das Konzeptwerk selbst entwickelt. Frauenlob nennt zwei Beispiele: „Eine schöne Übung, die sich für längere Seminare eignet, heißt ‚Mehr Sein als Haben‘. Darin begeben sich die Teilnehmenden zu zweit auf eine Blindführung zu immateriellen Zufriedenheitsquellen. Eigene Vorstellungen eines guten Lebens werden mit allen Sinnen erspürt. In einer anderen Übung, ‚Speed‘, setzen wir uns mit sozialen Beschleunigungsdynamiken auseinander und daran anschließend in ‚Resonanzoasen und Entfremdungswüs­ten‘ mit der Resonanztheorie von Hartmut Rosa“.

Die Gesellschaftsdiagnose der „Imperialen Lebensweise“ fordert eine vermehrte Selbstreflexion der Individuen von der eigenen Verstrickung in Ungleichheitsverhältnisse. Daher laden die vom Konzeptwerk entwickelten Methoden zur Selbstreflexion im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse ein. Zudem werden Methoden verwandt, in denen Angebote zur Transformation eigener Denk-, Fühl- und Handlungsweisen sichtbar werden.


Bildungsstätte Anne Frank

­Antisemitismus und Rassismus als gesamtgesellschaftliche ­Phänomene

Katharina Rhein, Dipl. Päd. & M.A. Soziologie, promovierte in Erziehungswissenschaften zum Thema „Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Herausforderung für die Pädagogik“. Sie ist Mitarbeiterin der „Bildungsstätte Anne Frank“ – Zentrum für politische Bildung und Beratung Hessen und seit April 2018 Ko-Leiterin der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt.

Die Bildungsstätte Anne Frank bezieht sich auf Gesellschaftsdiagnosen, in denen Antisemitismus und Rassismus als gesamtgesellschaftliche Phänomene aufgefasst werden, die sich nicht allein an den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft finden, sondern in der Gesamtgesellschaft zu verorten sind. Katharina Rhein, Mitarbeiterin in der Bildungsstätte, erklärt: „Der gegenwärtig feststellbare gesellschaftliche Rechtsruck, wie er sich in den Wahlergebnissen für die AfD, aber auch in vermehrten rassistischen und antisemitischen Übergriffen und Anfeindungen ausdrückt, ist insofern nichts völlig Neues, sondern stellt eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen dar.“

Die Bildungsstätte legt einen Fokus auf Betroffene von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung, deren Perspektiven gestärkt werden sollen. Gleichzeitig sollen andere Menschen für diese sensibilisiert werden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen, in denen sich Rechte immer mehr Gehör verschafften, sei es gerade wichtig, die Positionen derjenigen zu stärken, gegen die sich rechte Hetze richtet: „Dass der Fokus auf Betroffene gelegt wird, heißt, diese ernst zu nehmen und ihnen etwa im Hinblick auf Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen die Deutungshoheit zuzusprechen. Gleichzeitig sind aber auch diese Teil gesellschaftlicher Verhältnisse und damit ggf. trotzdem nicht frei von anderen diskriminierenden Denk- und Handlungsweisen. Es geht also darum, diskriminierende Äußerungen oder ein entsprechendes Verhalten mit dem Bewusstsein für verschiedene Diskriminierungsformen zu kritisieren.“

Die Bildungsstätte Anne Frank ist ein Bildungs- und Beratungszentrum in Frankfurt am Main. In ihr werden innovative Konzepte und Methoden entwickelt, um Jugendliche und Erwachsene für die aktive Teilhabe an einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu stärken. Die Bildungsstätte reagiert ihrem Selbstverständnis nach auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen mit zeitgemäßen pädagogischen Konzepten und setzt damit außerdem Impulse für den öffentlichen Diskurs.

Kontakt: www.bs-anne-frank.de

Der gegenwärtige Rechtsruck in der Gesellschaft wird von der Bildungsstätte als eine Gesellschaftsdiagnose betrachtet, die Auswirkungen auf die Bildungsarbeit hat: „Teilweise ergeben sich bestimmte Schwerpunkte oder Bedarfe, auf die es zu reagieren gilt, wie zum Beispiel die Frage des Umgangs mit Hate Speech oder Hassrede in den Sozialen Medien“.

Die Gesellschaftsdiagnose begreift Rassismus und Antisemitismus, ebenso wie andere Diskriminierungsformen, als gesellschaftliche Verhältnisse, von denen alle Menschen auf die eine oder andere Art geprägt sind. „Eine kritische Selbstreflexion ist also eine wichtige Voraussetzung für eine antisemitismus- und rassismuskritische bzw. gegen Diskriminierung gerichtete Bildungsarbeit. Der Anspruch ist dabei, kritisch gegenüber verschiedenen Diskriminierungsformen zu sein“, so Rhein weiter.

In Bezug auf die politische Bildung zielen die inhaltlichen Angebote der Bildungsstätte auf die Entwicklung eines Verständnisses, etwa für Rassismus oder Antisemitismus, damit diese zunächst einmal erkannt werden können, um entsprechend intervenieren zu können – als auch darauf zu reflektieren, wie sinnvolle Interventionen aussehen könnten.

Zielgruppen der Bildungsstätte sind Jugendliche und Erwachsene, wobei der Schwerpunkt hier auf Multiplikator/-innen liegt, d. h. auf Menschen, die in verschiedenen pädagogischen Bereichen arbeiten. Neben diversen Workshops und Fortbildungen runden Fachtage, das neue Lernlabor – eine interaktive Dauerausstellung – und weitere Ausstellungen zu verschiedenen Schwerpunkten die Arbeit ab. Zusätzlich zu diesen klassischeren Bildungsangeboten bietet die Bildungsstätte Anne Frank aber auch Beratung und Unterstützung bei konkreten Vorfällen und Konflikten an, die sich etwa an Schulen ergeben.

Die „Bildungsstätte Anne Frank“ betreibt zwei Beratungsstellen: response, die Beratungsstelle für Opfer von rechter und rassistischer Gewalt, und ADiBe, das Antidiskriminierungsberatungsnetzwerk Hessen.
Die Bedeutung der genannten Gesellschaftsdiagnosen für die Entwicklung von Bildungs- bzw. Seminarkonzepten zeigt sich in der Bildungsstätte Anne Frank in einer Sensibilität gegenüber Diskriminierungen. Katharina Rhein beschreibt diese Haltung so, dass Pädagog/-innen „sich immer so verhalten sollten, als wären potenziell Betroffene anwesend, auch dann, wenn das nicht offensichtlich ist, denn wenn beispielsweise in einer Schulklasse homophobe Äußerungen getätigt werden, weiß man als Pädagog/-in nicht zwangsläufig, ob sich davon jemand persönlich angegriffen fühlt. Es gilt aber den pädagogischen Raum als einen zu markieren, in dem alle anerkannt und gleichberechtigt sind“.

Bildungsstätte Alte Schule ­Anspach

Internet zwischen ­Freiraum und Panoptikum

Christian Kirschner arbeitet bei basa e. V. als Referent mit politischem Schwerpunkt. Er ist Mitglied der Fachgruppe Digitale Medien und Demokratie beim Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB). Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind informationelle Selbstbestimmung, emanzipatorische Techniknutzung und innovative Methodenentwicklung. Er arbeitet in seinen Jugendseminaren produktorientiert und erstellt mit jungen Menschen mediale Formate wie Kurzfilme, Hörspiele, Radiosendungen u. a. Für Multiplikator/-innen und andere Organisationen bietet er Schulungen zu digitaler Bildungsarbeit an.

Bildungsarbeit im Kontext von Digitalisierung und neuen Technologien
1993 erschien im „New Yorker“ ein Cartoon, der in die Internetgeschichte einging: Ein Hund sitzt an einem Desktop-PC und teilt einem anderen Hund mit, dass im Internet ja niemand wisse, dass er ein Hund sei. Diskriminierungsfreiheit, Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten, Anonymität und Meinungsfreiheit für alle waren die großen Versprechen, die im Internet ihre Verwirklichung finden sollten und die im Cartoon prototypisch ihren Ausdruck fanden – aus heutiger Perspektive eine naive Utopie. Die Anfänge des Internets sind mit dem heutigen Stand der Technik kaum zu vergleichen. So sind etwa E-Mails heute ein für Jugendliche gänzlich obsolet gewordenes, bisweilen auf Grund der Langsamkeit gar absurdes Format. Sie waren aber der Beginn einer kulturellen Revolution: des many-to-many-Prinzips.

Das Internet zwischen Freiraum und Panoptikum
David Kergel etwa beschreibt die Anfänge des Internets als „deutungsoffen und Ort für verschiedene kulturelle Praktiken bzw. eine Projektionsfläche für zukünftige Nutzungsmöglichkeiten. Ein Merkmal, welches den Internetdiskurs bis heute prägt“ (2018: 14). Zugleich ging mit der Entwicklung des Internets eine „Ent-fernung“ (vgl. Han 2005) von Raum und Zeit in der Kommunikation einher. Nicht länger die Rundfunkanstalten entschieden über den Zeitpunkt der Veröffentlichung, sondern die Nutzer/-innen des Internets. E-Mails und E-Mail-Verteiler markierten somit den Anfang einer gänzlich neuen Kultur medialer Kommunikation. Mit der räumlichen und zeitlichen Ent-fernung ging eine „Ent-Totalisierung“ (vgl. ebd.) einher, die den inhaltlichen Totalitätsanspruch staatlicher und privater Rundfunk­anstalten und Verlage strukturell in Frage stellte, der bis dahin auch den kulturellen Lebenspraktiken und Ausdrucksformen (etwa beim Zeitunglesen und Tagesschau schauen) inhärent war.

Bikram Keshari Mishra argumentiert aus seiner indischen Perspektive heraus, dass Gruppen, die früher in der Benutzung digitaler Medien stark unterrepräsentiert waren – Frauen, People of Colour, Menschen aus ländlichen Gebieten und Arme – ihre Nutzung der neuen Technologien stark ausgedehnt haben. Durch die niedrigschwellige Nutzbarkeit entfalten Medien eine inkludierende Wirkung – durch die Raum- und Zeitlosigkeit entfaltet sich ein Möglichkeitsraum jenseits tradierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. Mishra 2017: 127). Ramón Reichert benennt am Beispiel von YouTube Zugänglichkeit, Erreichbarkeit und Benutzerfreundlichkeit als Gelingensbedingungen einer solchen polyphonen Öffnung.

2019 ist es (eigentlich) kein Geheimnis mehr: Das Internet als Wirkungsraum privatwirtschaftlicher und staatlicher Akteure ist nicht länger ein offener, egalitärer, an Gerechtigkeit und Inklusion orientierter Raum. Ganz im Gegenteil befinden sich einige Unternehmen wie Facebook, Amazon, Google, Netflix und andere in einer völlig marktbeherrschenden Position. Die ursprüngliche Idee dezentralisierter Kommunikation und Kollaboration zugunsten eines offenen, inklusiven und demokratischen Raums erodiert. In Anbetracht der gesellschaftlichen Bedeutung des Internets und dessen Technologien spricht Kammerl etwa von den „Gefährdungen der gesellschaftlichen Souveränität“ (2017: 44). Die umfassende Datenerfassung und -verknüpfung im Kontext von Big Data bringen eine gänzlich neue Form der Erfassung und Vermessung des Individuums mit sich.

Es hat paradoxe Züge, dass genau jene Orte dialogischer, emanzipatorischer Internetnutzung Grundlage eines „neuen“ Überwachungskomplexes werden. Das Web 3.0 in seinem Echtzeitcharakter lässt die vor kurzem noch sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚realer‘ Welt vs. ‚virtueller‘ Welt des Internet obsolet erscheinen. Das Handeln im digitalen Raum wird gleichermaßen (wenn nicht sogar umfassender) wie das Handeln im vis-à-vis erfasst, zerteilt, verrechnet usw. Entscheidend ist, dass die Datenproduktion von den Nutzer/-innen selbst vorgenommen wird. Durch Eingebunden- und defacto Erfasst-Sein in Sozialen Netzwerken konstituiert sich das Individuum als „soziale Koordinate im digitalen Zeitalter“ (Kergel 2018: 147). Medien haben schon lange keine vermittelnde Funktion mehr, vielmehr sind sie gesellschafts- und subjektkonstituierend: Durch ihre Nutzung entstehen sie und mit ihr die soziale Wirklichkeit.

Die Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa) ist eine selbstverwaltete, basisdemokratische Bildungsstätte, die seit 1984 Angebote der politischen Jugendbildung, Jugendberufshilfe und Jugendberatung formuliert. Sie orientiert sich an emanzipatorischen Grundsätzen und tritt in ihrer Arbeit für Demokratie und Selbstbestimmung ein. Kontakt: www.basa.de

Bildungsarbeit mit einem Handyspiel
Die Frage, ob die Digitalisierung ein allumfassender Prozess sein wird, ist schon lange entschieden, wohl aber können und müssen jetzt die Diskussionen geführt werden, die zukünftige Technologien betreffen, um die emanzipatorischen und demokratisierenden Potenziale neuer Entwicklungen zu stärken. Dazu gehört auch, innerhalb der politischen Bildung Digitalisierung ernsthaft, informiert, technik- und medienaffin sowie jenseits langweilig gewordenen Gefährdungsrhetoriken zu verhandeln. basa e. V. versucht, an die digitalisierte Lebenswelt Jugendlicher anzuknüpfen und gleichzeitig die drängenden Fragen von Selbstbestimmung und Emanzipation im Kontext von Technologie zu behandeln.

Gegenwärtig arbeitet basa e. V. an „Canvas City“, einem Projekt, das die Diskussion um neue und zukünftige Technologien – klassisch Technikfolgenabschätzung – politisieren und in gesellschaftliche und demokratische Zusammenhänge einbinden möchte. Zentrale Herausforderung dabei ist, dass neue Technologien als Prototypen oder Modellprojekte nicht greifbar bzw. erfahrbar sind. Neue Technologien sind außerhalb von Scifi-Inszenierungen kaum vorstellbar. Daher finden die gesellschaftlichen Diskussionen potenziell entlang bisweilen beliebig utopisch oder dystopisch imaginierter Zukünfte statt, ohne einerseits die technischen Zusammenhänge zu kennen und andererseits ohne deren potenzielle Wirkungsweisen kennengelernt bzw. erfahren zu haben. Mit „Canvas City“ wird der abstrakte und bisweilen ausgeprägt technischen Diskurs mit einem location based mobile game („Handyspiel“) eingefangen, um eine methodisch und insbesondere auch sprachlich angemessene Reflexion des Themas zu ermöglichen, daraus politische Haltungen und Positionen zu entwickeln und Jugendliche zu gesellschaftspolitischem Engagement anzuregen.

Das Spiel selbst wird innerhalb von rund sechs Stunden mit 30 zeitgleich Spielenden am selben Ort gespielt werden. Die Teilnehmenden starten als einzelne Spieler/-innen. Zu Spielbeginn erfahren sie, dass sie Androiden, menschlich aussehende und handelnde Roboter, sind. Im Gegensatz zu den Menschen verfügen sie als technologische Wesen über die Fähigkeit, eine vierte Dimension sehen und gestalten zu können. Das ist die Augmented Reality-Welt (AR-Welt). Es ist (noch) unklar, wie dies geschah, aber sie verfügen über ein Bewusstsein und über bruchstückhafte Erinnerungen ihrer eigenen Bewusstwerdung. In jedem Fall nutzen sie die Gelegenheit, selbstbestimmt die vierte Dimension zu gestalten und sie sich als ihren quasi originären Sozialraum anzueignen. „Canvas City“ knüpft an aktuelle Trends in der Videospieleszene an, indem es konsequent auf mobile Endgeräte setzt. Es bedient sich im Spieldesign verbreiteter Spielmechanismen und kombiniert es mit innovativen Technologien wie geobasierten, d. h. standortbasierten Informationen. Jugendliche kennen diese grundlegenden Spielmechaniken aus zahlreichen anderen Spielen, sie erfreuen sich ausgesprochener Beliebtheit und ermöglichen einen leichten Einstieg.

Bei „Canvas City“ werden die Teilnehmenden Teil der Geschichte; sie beeinflussen durch ihre Handlungen und ihre Entscheidungen den Ablauf des Geschehens und kreieren auf diese Weise ihre eigene Geschichte. Jeder und jede Einzelne ist im Spiel Entscheider/-in – zugleich ist sie aber auch Betroffene von Entscheidungen der anderen Spieler/-innen. In Canvas City geht es deshalb nicht um das Gewinnen im klassischen Sinne, sondern um das gemeinsame Erschaffen und Durchleben einer ansprechenden Erzählung. Über demokratietheoretische Fragen zu reden, Technikfolgenabschätzung zu studieren oder sich auf unterschiedlichen Kanälen durch Medien zu informieren, ist eine Sache, Dilemmata und Konfliktsituationen selbst zu erfahren eine andere. So können abstrakte Themen und komplexe Zusammenhänge rund um Digitalisierung greifbar werden.

Literatur
Kergel, David (2018): Kulturen des Digitalen. Postmoderne Medienbildung, subversive Diversität und neoliberale Subjektivierung. Wiesbaden.

Han, Byung-Chul (2005): Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. Berlin.

Kammerl, Rudolf (2017): Das Potential der Medien für die Bildung des Subjekts. Überlegungen zur Kritik der Subjektorientierung in der medienpädagogischen Theoriebildung. In: MedienPädagogik 27, S. 30 – 49.

Mishra, Bikram Keshari (2017): Digital Media in Resisting Social Inequality. The Indian Experience. In: Heidkamp, Birte/Kergel, David (Hg.): Precarity within the Digital Age. Media Change and Social Insecurity. Wiesbaden, S. 123 – 133.

Reichert, Ramón (2013): Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung. Bielefeld.

Palm, Goedart (2006). CyberMedienWirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen. Hannover.

Zitation:
Wohnig, Alexander (2019). Gesellschaftsdiagnosen in der Praxis, in: Journal für politische Bildung 1/2019, 52-58.

Der Autor

Dr. Alexander Wohnig ist akademischer Mit-
­arbeiter an der Heidelberg School of Education (Universität und Pädagogische Hochschule Heidelberg). Seit Frühjahr 2017 ist er Teil der erweiterten Journal-Redaktion.

In den Projekten

Max Frauenlob hat in Marburg und Frankfurt/M. Soziologie studiert und sich dabei unter anderem mit Bildung für eine sozial-
ökologische Transformation beschäftigt. Im Konzeptwerk Neue Ökonomie liegt sein Schwerpunkt im Themenspektrum transformativer Bildung, Solidarischer Ökonomie und Sozialer Innovationen. Er arbeitet als Referent für Workshops und Seminare sowie an der Entwicklung von Methoden für die Bildungsarbeit.

Katharina Rhein, Dipl. Päd. & M.A. Soziologie, promovierte in Erziehungswissenschaften zum Thema „Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Herausforderung für die Pädagogik“. Sie ist Mitarbeiterin der „Bildungsstätte Anne Frank“ – Zentrum für politische Bildung und Beratung Hessen und seit April 2018 Ko-Leiterin der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt.

Christian Kirschner arbeitet bei basa e. V. als Referent mit politischem Schwerpunkt. Er ist Mitglied der Fachgruppe Digitale Medien und Demokratie beim Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB). Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind informationelle Selbstbestimmung, emanzipatorische Techniknutzung und innovative Methodenentwicklung. Er arbeitet in seinen Jugendseminaren produktorientiert und erstellt mit jungen Menschen mediale Formate wie Kurzfilme, Hörspiele, Radiosendungen u. a. Für Multiplikator/-innen und andere Organisationen bietet er Schulungen zu digitaler Bildungsarbeit an.

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