Geschützte Räume, ­kontroverse Räume

Folgt man der These, dass mit gelungener Integration Konflikte in einer Gesellschaft nicht ab-, sondern zunehmen, weil mehr Menschen sich zugehörig fühlen, einen gleichberechtigten Platz beanspruchen und ihre Interessen artikulieren (vgl. den Beitrag von El-Mafalaani in diesem Journal), ergibt sich daraus auch für die politische Bildung eine ganz praktische Frage: Wer sitzt im Seminar mit am Tisch und zu welchen Regeln wird dort gespielt?


Die Zusammensetzung der Teilnehmenden und die darin enthaltene Vielfalt von Erfahrungen, Perspektiven und Anliegen hat einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Aspekte eines Themas authentisch aus einer Gruppe heraus vorgebracht und in einen Austausch eingebracht werden können. Zentrale Lernerfahrungen, die für das Zusammenleben in einer von Diversität geprägten Gesellschaft bedeutsam sind, werden so erst möglich: unterschiedliche Erfahrungen wahrzunehmen und anzuerkennen, sich auf andere Positionen einzulassen, Kontroversen auszuhalten und sich in einer demokratischen Streitkultur zu üben.

Die Herausforderung für Akteure der politischen Bildung besteht folgerichtig darin, Diversität als zentrales Gestaltungsprinzip zu reflektieren und aktiv zu befördern. Angesichts einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung und Entfremdung kann politische Bildung damit einen Beitrag leisten, gezielt Gespräche und Diskussionen zwischen Menschen zu ermöglichen, die sich im Alltag nicht begegnen. Ausgehend von einer Reflexion des Heimatbegriffs werden dazu im Folgenden Erfahrungen und Strategien aus zwei Projekten vorgestellt.

Heimat: ja? nein? – Hauptsache im Plural
Spielt in diesem Kontext Heimat als relevantes Thema eine Rolle? Ja, denn aus einer diversitätsbewussten Perspektive spricht einiges dafür, sich einer Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff nicht grundsätzlich zu verschließen, sondern diesen als einen Ausgangspunkt für die Frage nach gelingendem Zusammenleben zu nutzen. Dass der Begriff diffus, vielschichtig, problematisch, kontrovers, emotional und wirkmächtig ist, spricht jedenfalls nicht gegen eine Thematisierung. Denn daraus kann eine Tiefe und Kontroversität entstehen, die Angebote politischer Bildung erst spannend und relevant machen. Zugleich gilt es die berechtigten Vorbehalte gegen den Heimatdiskurs ernst zu nehmen und bei der Konzeption von Veranstaltungen zu berücksichtigen.

Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Stoßrichtungen unterscheiden: zum einen die Frage nach Identität und Zugehörigkeit, zum anderen die nach Teilhabe, Werten, Regeln und Wünschen an das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Beide Aspekte sind miteinander verbunden, ziehen aber bei der Gestaltung von Angeboten der politischen Bildung unterschiedliche Schwerpunkte nach sich.

Der erste Aspekt – das menschliche Grundbedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit – ließe sich auf die Fragen zurückführen: Wer bin ich? Und wer sind wir? In diesem Kontext mit einer heterogenen Gruppe auf einer emotionalen, selbstreflexiven Ebene über Beheimatung zu sprechen, bietet potenziell viele inklusive Möglichkeiten. Denn die Dinge, die Menschen mit einem Gefühl der Vertrautheit und Beheimatung verbinden, sind sich oft sehr ähnlich. Darüber in persönlichen Begegnungen zu sprechen, kann das Gefühl stärken, einander bei aller Unterschiedlichkeit verbunden zu sein. Zugleich stärkt die Erfahrung, die eigene Geschichte erzählen zu können und gehört zu werden, das Gefühl von Anerkennung. Auf dieser Ebene zu sprechen kann somit beispielsweise das Verständnis dafür stärken, dass Menschen viele gemeinsame und eben oft auch mehrere Zugehörigkeiten empfinden – und zwar nicht nur diejenigen, die eine internationale Geschichte aufweisen. Die Heimaten, die Menschen in so einem Austausch für sich persönlich definieren und erzählen, stehen somit notwendigerweise im Plural. Damit ein Gespräch in dieser Weise gelingt, müssen zwingend auch Erfahrungen der Infragestellung von Zugehörigkeit, Diskriminierung und Exklusion thematisiert werden. Denn, wenn Heimat ein Ort ist, an dem ich mich angenommen fühle und die eigene Zugehörigkeit nicht in Zweifel gezogen wird, dann fühlen sich viele Menschen in unserem Land heimatlos (vgl. Sanyal 2019: 118).


Der Heimatbegriff ist diffus, vielschichtig, problematisch, kontrovers, emotional und wirkmächtig



Der zweite Aspekt – die Notwendigkeit, sich über Teilhabemöglichkeiten, Werte, Regeln des Zusammenlebens und gemeinsame Zukunftsvorstellungen auszutauschen – baut auf diesem ersten Schritt auf. So kann es gelingen, diese Fragen nicht im Sinne eines „Integrationsparadigmas“ zu diskutieren, das letztlich doch auf Normalitäts- und Homogenitätsvorstellungen aufbaut (vgl. Czollek 2019: 173), sondern als offenen Aushandlungsprozess, an dem alle Menschen beteiligt sind, die in der Gesellschaft zusammenleben. Seminare der politischen Bildung können Kompetenzen für solche Aushandlungsprozesse stärken, indem die Teilnehmenden ihr konkretes Miteinander gestalten und reflektieren. Es ist eine häufige Erfahrung aus der pädagogischen Praxis, dass Gruppen, die in echte Konflikte geraten und diese miteinander lösen, am Ende tragfähige Lösungen finden, mit denen sie sich stärker identifizieren können und die den Bedürfnissen in der Gruppe besser gerecht werden, als wenn alle Rahmenbedingungen gesetzt sind und das Miteinander vermeintlich vollkommen reibungslos verläuft. Heimaten im Plural entstehen aus dieser Perspektive überall dort, wo Menschen sich mit einer Gruppe identifizieren, Konflikte lösen und Verantwortung für das Miteinander übernehmen.

Pointiert zusammengefasst gilt es also, pädagogische Räume zu gestalten, die sowohl geschützter als auch in positivem Sinne kontroverser sind, als es Teilnehmer/-innen in ihrem Alltag erleben. Damit dies gelingt, müssen Träger der politischen Bildung kritisch reflektieren, welche Teilnehmer/-innen sie erreichen, und gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen, um den Kreis potenzieller Teilnehmer/-innen zu erweitern. Andererseits bedeutet es, sich mit Blick auf pädagogische Leitprinzipien, Formate und Methoden so aufzustellen, dass in den jeweiligen Angeboten für alle Teilnehmer/-innen die Möglichkeit besteht, sich mit ihren Sichtweisen gleichberechtigt einzubringen. Maßstab ist dabei, ob im Seminar dieser Anspruch nicht nur benannt, sondern konkret erfahren werden kann.

Öffnung politischer Bildung für die postmigrantische Gesellschaft
Dies gilt insbesondere für eine postmigrantische Gesellschaft, in der „Zugehörigkeiten, nationale (kollektive) Identitäten, Partizipation und Chancengerechtigkeit postmigrantisch, also nachdem die Migration erfolgt und nun von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, nachverhandelt und neu justiert werden“ (vgl. Foroutan 2015).

Politische Bildung kann ein wichtiges Forum sein, in dem diese Aushandlungsprozesse stattfinden. Allerdings steht sie aufgrund des Prinzips der Freiwilligkeit der Teilnahme und der im Vergleich zum formalen Bildungssystem geringen Reichweite auch vor besonderen Herausforderungen. Träger der non-formalen Bildung müssen also sehr gezielt vorgehen, wenn sie in den Austausch über Themen dieser postmigrantischen Gesellschaft Menschen und Perspektiven einbinden wollen, die bisher kaum repräsentiert sind. Zwei Praxisbeispiele verdeutlichen, wie unterschiedlich Strategien sein können, um langfristig eine diversitätsorientierte Öffnung der politischen Bildung zu erreichen.

„Empowered by Democracy“
Im trägerübergreifenden Projekt „Empowered by Democracy“ des Bundesausschuss Politische Bildung (bap) stand die Überlegung im Fokus, gezielt Angebote für und unter Beteiligung von jungen Menschen mit Fluchtgeschichte zu entwickeln; eine heterogene, aber tendenziell prekarisierte und machtarme Gruppe. Folgerichtig rückte hier zunächst der Begriff des Empowerments in den Blick. Bei diesem Konzept geht es im „Kern um Entwicklungsprozesse, in denen Menschen ihre Ohnmacht überwinden, sich ihrer Stärken bewusst werden, diese weiterentwickeln und ihr Leben zunehmend selbstbestimmt in die Hand nehmen“ (Empowered by Democracy 2019). Im Projekt wurde herausgearbeitet, wie individuelles und kollektives Empowerment verbunden sind. Als Konsequenz entstanden unterschiedliche Lernsettings – solche, die sich zum Teil ausschließlich an bestimmte Gruppen geflüchteter Jugendlicher richteten, ebenso wie Formate, bei denen es darum ging, diese mit herkunftsdeutschen Jugendlichen zusammenzubringen.

Diese Differenzierung zielt auf unterschiedliche Selbstwirksamkeits- und Teilhabeerfahrungen, die erst im Zusammenspiel dazu führen können, dass auch geflüchtete Jugendliche sich kritisch „mit Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform auseinandersetzen können, sich über Mitsprache- und Teilhabemöglichkeiten informieren und diese auch wahrnehmen können“ (Jantschek 2018: 13).


Ein wichtiger Baustein ist die Entwicklung von  niedrigschwelligen, flexibel einsetzbaren Methoden



Einen zentralen Stellenwert hat auch das Ziel, die Teilnehmer/-innen im Arbeitsfeld der politischen Jugendbildung zu qualifizieren und zu Mitgestalter/-innen zu machen. Denn es reicht nicht, wenn die Mehrheitsgesellschaft die Themen dieser jungen Menschen unter sich verhandelt. Erst ihre Perspektiven und Anliegen können dazu beitragen, blinde Flecken in Diskussionen, Dysfunktionalitäten in Strukturen und weitere Handlungsbedarfe aufzudecken. Die neu qualifizierten Teamer/-innen werden damit automatisch andere Themen setzen und diese anders bearbeiten, als dies ohne ihr Mitwirken der Fall wäre. Gerade die Einrichtungen, die diesen Weg aktiv vorangehen, berichten davon, wie die Fragestellungen mit ersten Erfolgen komplexer werden. Denn mit der Einbindung neuer Perspektiven werden Defizite und Grenzen einer diversitätsorientierten Öffnung der eigenen Organisation sichtbar, die neue und nur mittelfristig bearbeitbare Aufgaben mit sich bringen. Bei der Qualifizierung neuer Teamer/-innen erweisen sich die Heterogenität und geringe Formalisierung von Wegen in das Arbeitsfeld der politischen Bildung als Herausforderung. Im Projekt wurde daher kein festes Curriculum entwickelt. Vielmehr erprobten die beteiligten Einrichtungen spezifische Wege, die auf einem intensiven kollegialen Austausch aufbauten, zugleich aber die individuellen zeitlichen Möglichkeiten der Teilnehmer/-innen und Bedingungen der Einrichtungen zu berücksichtigen hatten (vgl. die Rubrik BildungsPraxis in diesem Journal).

„Alles Glaubenssache?“
Einen anderen Weg der Öffnung geht das Projekt „Alles Glaubenssache?“. Es lädt Jugendliche ein, sich über die eigene Religiosität und das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen in unserer Demokratie auszutauschen. Im Kontext einer postmigrantischen Gesellschaft, die zugleich zu großen Teilen säkularisiert und insbesondere im Osten von einer massiven Entkirchlichung geprägt ist, adressiert das Projekt eine doppelte Problematik: Ein Austausch zwischen Menschen über Religion und Glauben findet kaum statt, während gleichzeitig „Religion“ als Thema in diffusen, öffentlichen Debatten omnipräsent ist. Allzu häufig wird dabei defizitorientiert aus dem Blickwinkel von Integration, Terror oder Extremismus auf Religion geschaut. Insbesondere Muslime und der Islam werden im identitätspolitischen Diskurs der extremen und populistischen Rechten als „fremd“ markiert. Der Begriff „fremd“ bezeichnet dabei nicht nur etwas, das unvertraut ist, sondern das auch als „nicht zugehörig“ markiert wird. Wo eine kognitive und auch emotionale Unvertrautheit gegenüber jemandem herrscht, „weil wir seine Bräuche und Gewohnheiten, womöglich auch seine Werte und Normen nicht kennen“ gedeiht schnell die Annahme einer normativen Fremdheit: „Oft unterscheiden sich die Normen gar nicht so sehr voneinander, wie angenommen wird, weil Unvertrautheit dazu führen kann, dem Anderen zu unterstellen, er folge Normen, die mit den eigenen unvereinbar seien“ (Münkler/Münkler 2016: 204 f.).

Eine Strategie der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) besteht in dieser gesellschaftspolitischen Gemengelage darin, in Kooperation mit muslimischen und nicht-konfessionellen Partnern sowie der Jugendsozialarbeit Formate und Methoden für eine aufsuchende politische Bildung z. B. an Schulen zu entwickeln. Auch hier ist der Aufbau von divers zusammen gesetzten Teams, in diesem Fall im Hinblick auf ihre religiöse Selbstverortung, eine vorrangige Aufgabe. Die Arbeit im Projekt verdeutlicht aber auch die Notwendigkeit, in den beteiligten Systemen – außerschulische Bildung, Schule, Jugendsozialarbeit – eine größere Sensibilität und Kompetenz für den Umgang mit diesem Themenfeld zu schaffen. Einen wichtigen Baustein bildet dabei die Entwicklung von niedrigschwelligen, flexibel einsetzbaren Methoden, die Pädagog/-innen wie Jugendlichen einen einfachen Einstieg in das Sprechen über Religion und Religiosität ermöglichen.

Literatur
Czollek, Max (2019): Gegenwartsbewältigung. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin, S. 167 – 181.

Empowered by Democracy (2019): Was kann politische Bildung zum Empowerment geflüchteter Jugendlicher beitragen?, https://empowered-by-democracy.de/wp-content/uploads/2018/11/Diskussionspapier1_Empowerment_end.pdf

Foroutan, Naika (2015): Die postmigrantische Gesellschaft. In: Zuwanderung, Flucht und Asyl (bpb Kurzdossier), https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft

Jantschek, Ole (2018): Demokratie als Thema der politischen Bildung. In: Bundesausschuss Politische Bildung (Hg.): Politische Jugendbildung und Teilhabechancen in der Migrationsgesellschaft gestalten. Wuppertal, S. 13 – 14, https://empowered-by-democracy.de/wp-content/uploads/2018/11/BAP_EbD_Broschuere_RZ_web.pdf

Münkler, Herfried/Münkler, Marina (2016): Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Berlin.

Sanyal, Mithu (2019): Zuhause. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin, S. 101 – 121.

Alle Internetquellen abgerufen am 15.06.2019.


Zitation:
Jantschek, Ole (2019).  Geschützte Räume, ­kontroverse Räume. Politische Bildung in einer Gesellschaft der Diversität, in: Journal für politische Bildung 3/2019, 34-39.

Der Autor

Ole Jantschek M.A., ist Pädagogischer Leiter der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) in Berlin und Mitglied der Journal-Redaktion.

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