Freedom Day

Für den 19.7.2021 hatte der britische Premierminister Boris Johnson die Aufhebung sämtlicher Verordnungen zum Schutz gegen die Covid-19-Pandemie angekündigt. Während die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen in Großbritannien zu der Zeit bei etwa 50.000 pro Tag lag, war der Tag von der Regierung als Freedom Day angekündigt worden und wurde als solcher von vielen gefeiert. Unwillkürlich klingen bei dem Wort Freedom Day die gerade im Alltagsbewusstsein der britischen Siegernation sehr präsenten Begriffe D-Day und V-Day mit, die sich auf die Landung der Alliierten Truppen in der Normandie im Juni 1944 und auf den Sieg über Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 beziehen – eine Parallele, die der Aufhebung der Covid-Maßnahmen ein höchst fragwürdiges Gewicht gibt. Es entsteht der Eindruck, hier werde die Befreiung von einer Jahre währenden Diktatur gefeiert. Auch in anderen Ländern wurde im Juli 2021 allenthalben von der ‚Wiedergewinnung der Freiheit‘ gesprochen, als hätten die Menschen gerade Jahrzehnte der Entrechtung, Knebelung und Willkürherrschaft hinter sich. Das ist in mindestens dreierlei Hinsicht irritierend.


Wie passt dieses Feiern der Freiheit – zumal in einem Vorreiterland der vieldiskutierten Postdemokratie (vgl. Crouch 2008) – zusammen mit der in den Sozialwissenschaften breit geteilten Diagnose der Regression der Demokratie, der autokratischen Wende und der autoritären Versuchung (vgl. z. B. Schäfer/Zürn 2021)? Längst haben doch ganz verschiedene gesellschaftliche Gruppen, unabhängig von ihren offiziellen Bekenntnissen zu demokratischen Werten, ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Demokratie entwickelt. Selbst die etabliertesten Demokratien wie Großbritannien und die USA sind in ihren Grundfesten erschüttert. Und gerade im Zeichen des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie wird immer offener die Frage gestellt, ob nicht zentralistisch-autoritäre Systeme letztlich doch besser in der Lage seien, den Herausforderungen der heutigen Krisen- und Katastrophen-Normalität zu begegnen als föderal und demokratisch organisierte.

Zwar bedeuteten die Maßnahmen zur Begrenzung der Pandemie für viele Bürger*innen zweifellos unangenehme Einschränkungen, aber von Unfreiheit und Unterdrückung konnte wahrlich nicht die Rede sein, und von Diktatur schon gar nicht. Vielmehr hatten Regierungen mehr oder weniger erfolgreich versucht, ihre jeweiligen Gesellschaften vor einer Pandemie und ihren gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen zu schützen. Dafür hatten sie erhebliche finanzielle Mittel mobilisiert und sich ausdrücklich bemüht, niemanden zurückzulassen. Deutlich sichtbar ging es um den Schutz der Bürger*innen und nicht um die Interessen von oligarchischen Eliten, wie das bei totalitären Regimen in der Regel der Fall ist.

Die Wiederentdeckung der Politik und des Staates war gerade in der frühen Phase der Pandemie noch von vielen als unbedingt positiv betrachtet…

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Der Autor

Dr. Ingolfur ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Gesellschaftstheorie, der Wandel moderner Demokratien und umweltpolitische Theorie.

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