Die Sichtbarkeitsrevolution

Das Zusammenspiel aus alten und neuen Medien, das Tempo und die Überhitzung von Debatten in sozialen Netzwerken verändern die Politik radikal. Sie wird atemlos, hektisch, getrieben. Ein Essay.

Wie anfangen, wo beginnen? Mit Rezo, dem jungen Mann mit den blauen Haaren, der die CDU mit einem millionenfach geklickten YouTube-Video in die Enge getrieben hat? Von Robert Habeck erzählen, dem Grünen-Politiker, der sich konsequent von Twitter und Facebook verabschiedete, weil ihm die Echtzeithektik zunehmend als Zwang zur gedankenlosen Sofortreaktion erschien? Von der Kanzlerin berichten, die im Sommer 2019 unter den Augen von Fernseh- und Handy-Kameras zu zittern anfing und dafür in den sozialen Netzwerken jede Menge Spott, Häme und Hass kassierte? Auf aktuellere Fälle zurückgreifen, wie die Geschichte von Armin Laschet, den die BILD-Online, Organ organisierter Dumpfheit, zeigt, wie er – Skandal!, Skandal! – mit herabhängender Maske im Flugzeug gesichtet und fotografiert wurde? Er hat sich, wie ein Reporter das Ereignis kommentiert, wohl unbeobachtet gefühlt. Und ihm sei, wie auch anderen Politiker*innen, die ihre Maske in Zeiten der Pandemie nicht ordentlich tragen, wohl nicht bewusst, dass man längst in einer Zeit der Dauerbeobachtung lebe. Also erneut: Welches Beispiel und welche Geschichte besitzt elementaren Symptomcharakter und taugt dazu, die laufende Medien- und Wahrnehmungsrevolution zu illustrieren, die die Politik verändert?

Manchmal lohnt es sich, den Blick von der unmittelbaren Aktualität und den unmittelbar gegenwärtigen Geschehnissen zu lösen. Und genau das will ich hier tun. Ich möchte – im Bemühen um die grundsätzliche Analyse der neuartigen Sichtbarkeitsverhältnisse – ein 20 Sekunden dauerndes, auf Facebook, Twitter und YouTube verbreitetes Video aus dem Jahre 2016 herausgreifen, das wie unter einem Brennglas alles zeigt: die neue Geschwindigkeit, den Terror der Transparenz, die Getriebenheit des Politikers im Zeitalter sozialer Medien, der plötzlich schutzlos auf der Weltbühne des Netzes herumsteht. Was sieht man auf diesem Video? Man sieht: Hillary Clinton, die einstige amerikanische Präsidentschaftskandidatin. Es ist der 11. September 2016, ein heißer, schwüler Vormittag in New York. Und Hillary Clinton will in ein Auto einsteigen. Eigentlich ganz unspektakulär. 

Viele Menschen sind am Ground Zero zusammengekommen, um der Opfer des Anschlags vom 11. September zu gedenken. Auch die Präsidentschaftskandidatin ist vor Ort, und sie bemerkt, dass sie die Veranstaltung in dieser Hitze nicht wird durchstehen können, denn sie leidet an einer Lungenentzündung, was damals nur engste Vertraute wissen. Und so gibt sie ihren Mitarbeitern ein Zeichen, geht an den Rand der Menschenmenge. Als das Auto schließlich heranbraust und sie versucht, sich ins Wageninnere zu flüchten, da sacken ihr ganz kurz die Beine weg. Sie taumelt. Schwankt. Droht zu stürzen. Ihre Leute bilden geistesgegenwärtig einen visuellen Schutzwall und stützen sie. Aber ein Hobbyfotograf, kurioserweise ein Clinton-Anhänger, reißt sein Smartphone hoch, produziert ein Minifilmchen der taumelnden Politikerin, postet dieses gedankenlos auf Facebook. Schon bald kursieren erste Gerüchte. Journalisten fragen auf Twitter nach. Irgendwer will gehört haben, Hillary sei nicht gesund. Und dann explodiert der Filmbeweis in den sozialen Netzwerken, wird von Fernsehanstalten aufgegriffen. Anfragen wie „Hillary collapsing“ schießen empor. Und Hillary Clinton tritt kurz darauf, krank, aber eisern lächelnd und mit simulierter Fröhlichkeit, vor die Kamera.


Schutzoasen der Intransparenz schwinden



Noch einmal: Was sieht man hier eigentlich? Ich behaupte: Diese 20 Sekunden sind ein Zeitdokument, Ausdruck und Folge einer radikal veränderten Medienwelt, die die Politik in neue Druck- und Geschwindigkeitsverhältnisse hineinkatapultiert.

Die erste Erkenntnis: Die Schutzoasen der Intransparenz, in denen sich ein Politiker unbeob­achtet wähnen kann, schwinden. Denn jeder ist, sein Smartphone in der Hand, zum Sender geworden. 2016, im Jahr des Videos, waren zwei Milliarden Smartphones verbreitet. 2020 dürften es vier Milliarden sein. Und was ist ein Smartphone? Es ist ein im Wortsinne indiskretes Medium, so meine These. Es lässt die Hinterbühne zur Vorderbühne werden und einst diskrete, einst vonein­ander getrennte Welten verschmelzen – die Welt des Öffentlichen und die Welt des Privaten, die Sphäre des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Eben das hat Hillary Clinton auf der Flucht ins Wagen­innere erlebt.

Die zweite Erkenntnis: Die Unterscheidung von Peripherie und Zentrum, die noch die alte Medien­welt strukturierte, ist verwischt und verweht. Es gibt nicht mehr den einen Leuchtturm der einen Zeitung, nicht mehr das große, alles überstrahlende Lagerfeuer des einen Fernsehsenders, der ein Zentrum bilden könnte. Das Wirkungsnetz ist das neue Leitmedium; hier, im Zusammenspiel von alten und neuen Medien, ereignen sich die plötzlich aufschäumenden Aufmerksamkeits- und Erregungsexzesse der Gegenwart.

Zwei Stunden brauchte das Clinton-Filmchen, um von Facebook ins Fernsehen, von der Netzpräsenz des Hobbyfotografen in den medialen Mainstream zu gelangen. Und schon das zeigt: Information ist heute rasend schnell, diffundiert barrierefrei durch die digitale Welt und wird von einem Publikum verbreitet, das selbst medienmächtig geworden ist. Journalisten haben ihre mächtige Monopolstellung als Gatekeeper am Tor zur öffentlichen Welt verloren und agieren nun im Zusammenspiel mit allen anderen, die zu Playern in der Erregungsarena der Gegenwart geworden sind.

Die dritte Erkenntnis: Das Lebensgefühl von Politikerinnen und Politikern verändert sich unter den aktuellen Medienbedingungen radikal. Aus dem Ideal der informationellen Selbstbestimmung wird die Erfahrung der informationellen Verunsicherung. Was heißt das konkret? Politikerinnen und Politiker wissen nie, was andere über sie wissen, wie sie zu diesem Wissen gelangt sind und wie sich dieses Wissen im Extremfall nach dem Muster einer Epidemie verbreitet. Welche Fehlleis­tungen werden vielleicht schon übermorgen offenbar? Welches Foto in den Archiven bzw. in den Anarchiven des Netzes poppt auf? Längst rivalisiert und interagiert der Politiker der Gegenwart in einer derart grell überbelichteten Welt mit seiner digitalen Zweitpersönlichkeit, seinem Online-Zwilling. Pflegt ihn. Versucht ihn im Sinne der Imagekosmetik aufzupolieren. Bemüht sich um Korrektur. Will die Reduktion auf die eine Fehlleis­tung – den plötzlichen Blackout in einer Talkshow, den Heulkrampf bei einer Pressekonferenz, das dusslige Ad-hoc-Bild mit dem Mittelfinger – wieder ungeschehen machen.


Bloß keinen Shitstorm riskieren



Das heißt nicht, dass Politiker stets Opfer sind, dies gewiss nicht. Auch sie versuchen, Medien gezielt zu beeinflussen, Gegner zu diskreditieren, dem Geschehen mit Hilfe von PR-Beratern einen Spin zu geben, lassen sich mitunter ohne Not treiben und hetzen, produzieren jede Menge Nicht-Nachrichten, ohne Relevanz. Und doch: Politische Kommunikation findet im Social-Media-Zeitalter im Zeichen eines wachsenden Kontrollverlustes statt. Und das ist im Kern eine schlechte Nachricht. Weil in dem Bemühen, die Restkontrolle zu bewahren, eine neue Verzagtheit und Ängstlichkeit entstanden ist, frei nach dem Motto: Bloß keinen Shitstorm riskieren und maximal unangreifbar formulieren! Weil die beständig drohende Gefahr des Kontrollverlustes die Hochrüstung im Inszenierungsgeschäft vorantreibt; auch dies ist ein Kollateralschaden der totalen Transparenz. PR-Berater glätten die Lebensäußerungen ihrer politischen Schützlinge, um den letzten Rest Inszenierungsautorität zu bewahren, oft so lange, bis man den Menschen hinter der Phrase endgültig nicht mehr erkennen kann. Und am Ende verlieren alle: der Politiker, der sich auf dem Weg in die Öffentlichkeit verbiegt und verrenkt; das Publikum, das Authentizität, Ernsthaftigkeit und inhaltliche Profilierung vermisst; ein um Seriosität bemühter Journalismus, der nicht bloß Phrasen verbreiten und sorgsam geglättete Oberfläche zeigen will. Kurzum: Die Öffentlichkeit produziert den visionsfeindlichen Angstpolitiker, den sie dann verachtet, und folgt mit der Forderung nach permanenter Kommunikationsbereitschaft, authentischer Kantigkeit und absoluter Perfektion einem paradoxen Ideal, das sich von niemandem einlösen lässt. Denn wer authentisch handelt, ist nicht perfekt; und wer perfekt erscheint, kann nicht authentisch sein, ist doch der Mensch, wie schon der Philosoph Immanuel Kant wusste, aus krummem Holze geschnitzt.

Und schließlich: Wer fortwährend postet, twittert und kommentiert, seinen Gedanken- und Bewusstseinsstrom offenbart, der macht unvermeidlich jede Menge Fehler. Und wird in seiner Gewöhnlichkeit kenntlich. „Alle Menschen sind in einem bestimmten Sinn ‚gewöhnlich‘“, so charakterisiert der Medientheoretiker Joshua Meyrowitz das Dilemma. „Jemand kann jedoch sein Image von ‚Größe‘ aufrechterhalten, indem er oder sie es sich nicht gestattet, etwas von dieser seiner Gewöhnlichkeit in Erscheinung treten zu lassen. [...] Ein hoher Status hängt von bewußten oder unbewußten Strategien ab, mit denen Situationen kontrolliert werden. Eine Person mit hohem Status kann diesen nur aufrechterhalten, indem sie sorgfältig den Informationsfluß kontrolliert und gleichzeitig die Techniken der Kontrolle verbirgt. Doch wenn ihre Kontroll- und Selbstdarstellungs-Strategien offengelegt werden, verliert sie das Image, ‚bedeutend‘ zu sein. Alle Techniken, die Achtung und Ehrfurcht wecken sollen, bergen daher die Gefahr der ‚Schande‘ – eine Abwertung der eigenen Person, verursacht durch die Enthüllung der Techniken der Machterhaltung“ (Meyrowitz 1990: 143).


Instant-Ikonen tauchen auf, werden gehypt, verschwinden wieder



Wie kommt man da raus? Wie ließen sich die Schmerzen der Sichtbarkeit lindern? Der Netzphilosoph David Weinberger hat schon vor Jahren gesagt, dass ein Zeitalter der Transparenz auch ein Zeitalter des Vergebens und Verzeihens sein müsste. Klingt gut. Eigentlich. Aber noch ist diese Gesellschaft nicht soweit. Noch gibt es auf Seiten des Publikums und des Journalismus keinen ausreichend ernüchterten Idealismus, keinen Abschied vom infantilen Traum der Lichtgestalt. Und so führt uns die Totalausleuchtung der Politik im Verbund mit den Reaktions- und Interaktionszwängen in den sozialen Medien und in Kombination mit den überzogenen Ansprüchen des Publikums direkt in die Ära der Augenblicks-Autoritäten, der Instant-Ikonen und der Stichflammen-Stars. Sie werden gefeiert, um schon ein paar dumme Scherze oder ein paar Skandälchen später wieder in einem Strudel der Negativberichte zu versinken. Sie tauchen auf, sie werden gehypt. Und verschwinden wieder.

Noch ist es lange hin, bis im September 2021 der neue Bundestag gewählt wird. Noch steht das politische Handeln aktuell ganz im Bann der Pandemiebekämpfung. Aber man muss kein Prophet sein, um eines mit Gewissheit zu diagnostizieren: Wir werden uns über Fotos und Videos empören, über achtlose Tweets und Facebook-Postings erregen, wir werden blamable Momente sehen und mit diskreditierenden Dokumenten konfrontiert sein, die in den Erregungskreisläufen der digitalen Zeit mit einem Mal für Aufmerksamkeitsexzesse sorgen. Die Sichtbarkeitsrevolution wirkt, soviel ist sicher, wie ein untergründig wirksamer Energiewirbel, der – jenseits der gerade aktuellen Reizthemen – das politische Geschehen unterschwellig prägt.

Literatur
Meyrowitz, Joshua (1990): Die Fernseh-Gesellschaft: Band I. Überall und nirgends dabei. Weinheim u.a

Dieser Artikel basiert auf einem Rundfunk-Essay für den NDR und folgendem Buch des Autors (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München.



Zitation:
Pörksen, Bernhard (2021). Die Sichtbarkeitsrevolution, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 10-15, DOI https://doi.org/10.46499/1670.1950.

Der Autor

Dr. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Dynamik öffentlicher Empörung und die Zukunft der Reputation. 

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