Der Weg zum Dienst­leistungsunternehmen

Marion Reinhardt (Hg.) (2022): Brücken bauen, Menschen stärken. Der Internationale Bund in der deutsch-deutschen Bildungs- und Sozialgeschichte. Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag), 463 S., 39,90 €


Der Internationale Bund, Freier Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit e. V. (IB) hat bereits zwei Studien zu seiner Geschichte vorgelegt. Die erste Studie beschäftigt sich mit der Gründungsgeschichte des Verbands nach Ende des 2. Weltkriegs und der Niederlage des Nationalsozialismus, die zweite mit dem Aufbau und der Arbeit der Organisation in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik. In beiden Studien stand der Einfluss von Personen, die in ranghohen Funktionen in der Hitlerjugend aktiv waren, im Zentrum neben dem sozialen Engagement des Verbands. Die Bände: „Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes“ (2017) und „Von Altlasten und Neuanfängen“ (2019), beide herausgegeben von Marion Reinhardt sind ebenfalls im Wochenschau Verlag erschienen.

Der nun vorliegende dritte Band zur Geschichte und Arbeit des Verbands umfasst die Zeit ab den 1970er Jahren in der alten Bundesrepublik und ab 1990 bis 2019 in der neuen Bundesrepublik. Themen sind zunächst die Jahre der Hoffnung auf gesellschaftliche Modernisierung und Reformen, aber auch der aufkommenden ökonomischen Krisen in den 1970er/1980er Jahren der alten Bundesrepublik. Es folgen Studien zur dynamischen und zugleich unsicheren Zeit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und den folgenden krisenreichen, von europäischen und globalen Prozessen mitgeprägten, Prozessen in der neuen Bundesrepublik. Auch in diesem Band wird die Entwicklung des IB im Kontext gesellschaftlicher und politischer Veränderungen sowie fachpolitischer Debatten reflektiert. 

Die Beiträge beziehen sich also auf einen Zeitraum von 50 Jahren: Zunächst auf zwei unterschiedliche Systeme, dann auf die Phase der Transformation, deren Auswirkungen weit überwiegend die ostdeutschen Bundesländer betrafen, sowie auf eine Phase einer bislang nur bedingt gelungenen Angleichung von Lebensverhältnissen und ökonomischen Bedingungen. Der IB hat sich in dieser Zeit von einem vorrangigen Akteur der Berufsvorbereitung und beruflichen Bildung zu einem Dienstleistungsunternehmen mit einem diversifizierten Portfolio entwickelt. In diesem Prozess erfolgte ein gründlicher Wandel der Organisation und eine massive Ausweitung der Handlungsfelder. Dem Anspruch, diesem komplexen Prozess gerecht zu werden, folgen mehr als 30 Autor*innen in mehr als 50 Beiträgen. Die Beiträge im ersten Kapitel vermitteln, wie sich Arbeitsschwerpunkte erweitern und verschieben. Galt das Interesse in den ersten beiden Jahrzehnten vorrangig der Integration und Unterbringung zugewanderter Jugendlicher sowie der Orientierung und Vorbereitung auf das Berufsleben, gab es ab den 1970er Jahren neue Tätigkeitsfelder. Ein bedeutender Schwerpunkt war die berufliche Bildung, doch mit zunehmenden ökonomischen Krisen wurden Berufsvorbereitung und das Engagement in dem sich ausbildenden Übergangssystem wichtiger. Die Jugendsozialarbeit, wenn auch noch nicht unter dieser Bezeichnung, etablierte sich, die Schulsozialarbeit wurde ein neues Arbeitsfeld. Die Arbeit mit Migrant*innen, Freiwilligendienste, ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung, Jugendbildungsarbeit, Jugendzentren, Mädchen*arbeit und die Betreuung von Menschen mit Behinderung spielten in der Arbeit der Mitgliedseinrichtungen zunehmend eine Rolle

Im zweiten Kapitel stehen unter der Fragestellung der Transformation die ersten Jahre des Vereinigungsprozesses im Zentrum. In zwei informativen Beiträgen werden zunächst Aufgaben und Struktur der Kinder- und Jugendhilfe in der alten Bundesrepublik und das System vergleichbarer Angebote für Kinder und Jugendliche in der DDR quasi als Hintergrund dargestellt, die im Transformationsprozess aufeinandergeprallt sind. In mehreren Beiträgen wird darauf hingewiesen, dass das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz, das aus langjährigen und kontroversen Diskussions­prozessen in der alten Bundesrepublik hervorgegangen ist, mit dem Datum der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den ostdeutschen Bundesländern in Kraft gesetzt wurde. Damit wurde ein Gesetz, das auf eine Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe zielte und von dem keineswegs behauptet werden konnte, dass es auf die Herausforderungen der Wiedervereinigung zugeschnitten war, Grundlage des Aufbaus. In diesem Kapitel kommen zahlreiche Praktiker*innen zu Wort, die sehr anschaulich den Wandel von Einrichtungen aus der Zeit der DDR in ein neues System der Kinder- und Jugendhilfe schildern (z. B. vom disziplinierenden Jugendwerkhof zum mittlerweile unterstützenden Jugendhilfe- und Ausbildungsverbund, Jugendgästehaus) oder den notwendigen Aufbau neuer Einrichtungen. Ergänzt werden diese Beiträge durch Interviews mit Zeitzeug*innen – die auch Aufschluss geben, ‚wie‘ Einrichtungen zum IB gekommen sind. Außerdem beschäftigt sich ein Text mit der Relevanz der Jugendberichterstattung für den Prozess des Aufbaus der Kinder- und Jugendhilfe. 

Das dritte Kapitel gibt Einblicke in neue und erweiterte Tätigkeitsfelder des IB und es werden Reformdiskussionen in Bildungs-, Kinder- und Jugendpolitik nachgezeichnet. In den Blick genommen werden Kindertagesstätten, freie Schulen (berufs- und allgemeinbildend), Jugendsozialarbeit, berufliche Bildung Benachteiligter, geschlechterbezogene Arbeit, internationale Arbeit, Inklusion, Migration, Freiwilligendienste und Jugendwohnheime. Dabei wird auch sichtbar, wie sozialpolitische Reformen (z. B. Hartz IV) in Verbindung mit einer auf Ausschreibungen basierten Vergabe von Fördermitteln dazu führten, dass der IB einzelne Handlungsfelder aufgeben und Personal entlassen musste sowie zu einer grundlegenden Reform seiner Organisation­strukturen und Leitungsebenen gezwungen war.

Im vierten Kapitel geht es um den IB als gesellschaftspolitischen und zivilgesellschaftlichen Akteur. Hier zeigt sich, dass er angesichts zunehmender gewaltförmiger Aktionen, aufkommendem Rassismus sowie wachsender Skepsis gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt und Demokratie, gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen und sich stärker in politischer Bildung/Demokratiebildung engagiert hat, u. a. durch Gründung einer eigenen Stiftung: „Schwarz-Rot-Bunt“. Der IB hat den Anspruch, ein relevanter gesellschaftspolitischer und zivilgesellschaftlicher Akteur zu sein oder wie die aktuelle Präsidentin des IB, Petra Merkel, im Interview betont, er müsse „bekannter werden und mehr Einfluss gewinnen“ (459).

Der Sammelband liest sich über weite Strecken wie ein Tätigkeits- und Erfolgsbericht eines Sozialunternehmens. Sicherlich kann die Darstellung der Geschichte eines Verbands mit stetig ausweitenden Handlungsfeldern und einer komplexen Struktur nicht die Debatten in den vielfältigen Handlungsfeldern nachzeichnen. Doch als Leser*in wünscht man sich an verschiedenen Stellen mehr über die Debatten im Verband über Umstrukturierungen, die Unternehmensstrategie, die Priorisierung von Handlungsfeldern und das Profil des IB zu erfahren – zumindest mehr als im Interview mit dem Vorsitzenden des Konzernbetriebsrats zur Entwicklung der Organisation oder im Band bezogen auf den Umgang mit dem Radikalenerlass in den 1970er Jahren oder auf das Problem der Überprüfung von Mitarbeitenden auf eventuelle Tätigkeiten für die Stasi zu lesen ist. 

Auch dieser dritte Band zur Geschichte des IB zeigt deutlich, dass der IB seit seiner Gründung relativ eng mit den etablierten Parteien verbunden ist. Zwar versteht er sich als parteipolitisch neutral, doch auf der Leitungsebene nehmen ehemals und aktuell politisch Verantwortliche wichtige Funktionen ein. Es ist sehr verdienstvoll, dass der IB seine Geschichte, die Entwicklung der Organisation und die Ausweitung seiner Handlungsfelder in dieser Offenheit reflektiert und sich mit seinen vielfältigen Tätigkeitsbereichen in einer heterogenen, demokratischen Migrationsgesellschaft klar positioniert. Dieser dritte Band ist in der Sozialstaatsdebatte auch als Geschichte einer Organisation im Kontext der Durchsetzung eines neoliberalen Staatsverständnisses zu lesen, die in zahlreichen Ansätzen versucht, einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung sozialer Probleme zu leisten, und vielfältige Hilfen für in schwierigen sozialen Verhältnissen lebende Menschen organisiert. Er ist auch ein instruktives und lesenswertes Dokument der Debatten in Sozial-, Jugend- und Bildungspolitik der zurückliegenden 30 Jahre um die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft und den Abbau von Diskriminierung.

Der Rezensent

Klaus Waldmann, Dipl. Pädagoge, Berlin

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