Begriffsvielfalt, Entgrenzung, Aufmerksamkeitskultur

Als Mitglied der JOURNAL-Redaktion hat Benno Hafeneger zwei Kollegen, Benedikt Sturzenhecker (Universität Hamburg) und Alexander Wohnig (Heidelberg School of Education), gebeten, als Einstieg in dieses Themenheft ihre Positionen zur aktuellen Begriffsvielfalt in der politischen Bildung zu markieren. Dabei geht es in vier Fragen um Begrifflichkeiten, die Abgrenzung bzw. Entgrenzung des Arbeitsfeldes sowie um Dimensionen und Implikationen der aktuellen Förderpolitiken des Bundes und der Länder. Die beiden Kollegen argumentieren aus unterschiedlichen Perspektiven – einmal aus der der politischen Bildung als Bildungsfeld im engeren Sinne, zum anderen aus der neueren Diskussion der Sozialpädagogik – und verstehen ihre Kurzbeiträge als einladende Überlegungen zur weiteren Diskussion.

JOURNAL: Derzeit gibt es zahlreiche Begriffe nebeneinander: Demokratiebildung, politische Bildung, Civic Education oder noch weiter gefasst auch politische Erziehung und Sozialisation. Wie beurteilen Sie die Begriffsvielfalt? Welche Implikationen sind für Sie damit verbunden?

Benedikt Sturzenhecker: Die Begriffe und Arbeitsfelder, die man im weitesten Sinne der politischen Bildung zuordnen kann, sind schon seit längerem entgrenzt. Die Begriffsvielfalt hat wahrscheinlich damit zu tun, dass das Politische selbst kaum einzugrenzen ist, geht es doch um die gesellschaftliche Gestaltung des (inzwischen globalen) Zusammenlebens. Auch der Bildungsbegriff ist zu einem Containerbegriff geworden; alles, was heute irgendwie mit Lehren und Lernen zu tun hat, schmückt sich gerne mit diesem Begriff.

Die Diversifizierung der Begriffe liegt auch an den Spaltungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Schulen und Positionen, die aufgrund der Distinktionszwänge des Wissenschaftssystems versuchen, für eigene Begriffe rund um politische Bildung Aufmerksamkeit zu erheischen. Kaum zu übersehen sind die ausdifferenzierten Arbeitsfelder, die in irgendeiner Weise so etwas wie politische Bildung machen, in allen Altersstufen und vielfältigsten gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Mit diesen Arbeitsfeldern sind die unterschiedlichsten Finanzierungsquellen und Fördersysteme verbunden. Insgesamt kommt es zu einer starken Versäulung der Begriffe und methodischen Konzepte, institutionellen Formen und Finanzierungsweisen; jeder Bereich folgt eigenen bzw. anderen Konzepten und Handlungslogiken.

Die Folge ist, dass „jeder sein Ding macht“ und versucht, sich Finanzierungsquellen zu sichern, Begriffe und Konzepte zu legitimieren, Eigenständigkeit und Originalität zu behaupten, ggf. auch andere als Konkurrenten kalt zu stellen oder sie zu ignorieren. Die Eigenheit der Begriffe und die Versäulung der Arbeitsfelder zieht eine spezifische Betriebsblindheit jeden Sektors nach sich. Man beschäftigt sich kaum damit, was die anderen denken und tun und schon gar nicht mit Kooperationsmöglichkeiten. Konflikte, im Sinne der eigenen Profilschärfung und Abgrenzung gegen andere, sind vielleicht noch willkommen, aber Erkenntnis von Zusammenhängen und gar möglichen gemeinsamen Zielrichtungen wird vermieden. Insgesamt schwächt diese Fragmentierung die Potenziale einer demokratisch orientierten politischen Bildung, in einer Zeit, in der die Demokratie so stark angefeindet wird wie lange nicht mehr.

Aber es gibt aber auch konstruktive Gegentendenzen. Dazu gehören u. a. zahlreiche Projekte der Bundesprogramme „Demokratie leben!“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ sowie die Gründung des „Bündnisses Bildung für eine demokratische Gesellschaft“ 2018, in dem über die Grenzen der Felder hinweg Kooperation begonnen wird. Die noch junge Fachstelle politische Bildung hat aktuell eine Landkarte der Forschung und Topografie der Praxis politischer Bildung erstellt (vgl. S. 76 in diesem Journal). Das schafft bisher nicht gekannte Chancen von Transparenz, Diskurs und Kooperation.

Alexander Wohnig: Erst einmal ist zu konstatieren, dass die Vielfalt der Begriffe, die derzeit in der Bildungslandschaft und -praxis präsent sind, auf eine Entwicklung verweist, die eine Chance bietet, aber auch Verwirrung stiftet: Viele Akteure der Demokratiebildung, des Demokratielernens usw. sehen sich als Akteure der politischen Bildung und haben auch ein Bedürfnis, politische Bildung zu betreiben. Immer wieder kommt es vor, dass diese Akteure die Frage danach stellen, was eigentlich politische Bildung ist und ob sie in ihrer Praxis politische Bildung fokussieren. Dies ist zunächst einmal begrüßenswert, hat doch politische Bildung erstens dadurch eine neue Konjunktur erfahren und zweitens kommt es zu einer Beschäftigung mit Fragen politischer Bildung. Auf der anderen Seite entsteht allerdings auch der Eindruck, dass nahezu alles als politische Bildung gelten kann: Das Durchführen eines Klassenrates in der Schule, die demokratische Abstimmung über das Essen im Jugendhaus, das Gestalten von Vorlesenachmittagen durch Kinder und Jugendliche in einer Stadtteilbibliothek, die kritische Analyse eines politischen Konfliktes mit anschließendem politischem Engagement usw.

Zu unterscheiden ist also meiner Ansicht nach zwischen einer Begriffsvielfalt aufgrund unterschiedlicher Konzepte und Schwerpunkte und einer entsprechenden Vielfalt, die aufgrund einer Verwirrung in einem pluralen Feld und der Unklarheit über die eigene Bildungs- und pädagogische Praxis entsteht. Damit einher geht die Notwendigkeit, über die hinter den Begriffen steckenden Konzepte zu sprechen und diese voneinander zu unterscheiden. Doch können die verschiedenen Begriffe so klar voneinander abgegrenzt werden? Ich denke, dass dies möglich ist, dass man z. B. definieren kann, was politische Bildung im Kern ausmacht. Diese Definition, auf die ich später eingehe, kann dann als Folie an andere Konzepte, bspw. das der Demokratiepädagogik, angelegt werden. Wichtig ist mir zu betonen, dass es nicht das alleinige Ziel sein muss, politische Bildung zu betreiben. Es hat auch seine Relevanz, junge Menschen zu sozialem Engagement anzuregen. Es erscheint mir aber als zentral zu benennen, was politische Bildung ausmacht und warum ein Engagement in einer Sozialeinrichtung nicht zwangsläufig politische Bildung ist. Dazu bedarf es aber auch der Verständigung im Feld, und zwar nicht nur zwischen den „klassischen“ Anbietern politischer Bildung, sondern ebenso mit Akteuren der Sozialarbeit, der Jugendverbandsarbeit, den Trägern der außerschulischen Bildung usw.

Um dies kurz zu verdeutlichen: Die Begriffe Demokratieerziehung und Demokratiebildung beispielsweise werden unterschiedlich gebraucht und sind u. a. auch von dem Begriff Demokratiepädagogik abzugrenzen. Aktuell ist eine Diffusion bei der Verwendung des Begriffs zu beobachten: Die Kultusministerkonferenz (KMK) definiert in ihrem im vergangenen Jahr aktualisierten Beschluss „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“, Demokratiebildung als einen „Unterrichtsinhalt“ und zählt dazu etwa Service-Learning, Methoden der Demokratiepädagogik, aber auch die Stärkung von Medienkompetenz und eine demokratische Schul- und Unterrichtskultur im Allgemeinen. Hier sind also alle Ebenen versammelt und Demokratiebildung wird als Aufgabe der gesamten Schule beschreiben, fokussiert aber nicht auf eine Fachlichkeit.

Es lässt sich jedoch auch feststellen, dass unter dem Begriff Demokratiebildung, so wie er in der Wissenschaft verwendet wird, vor allem die Strukturen und Aufgaben der Bildungs- und Sozialisationsinstitutionen, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, vor dem Hintergrund ihrer Potenziale zum Ermöglichen von Mitbestimmung und Partizipation in den Blick geraten. Das scheint vor allem der Fall zu sein, wenn die Erziehungswissenschaft und Pädagogik den Terminus Demokratiebildung gebraucht. Demokratiebildung mit einem solchen Fokus strebt eine Vernetzung pädagogischer und zivilgesellschaftlicher Sozialisationsinstanzen sowie eine Demokratisierung dieser mit dem Ziel einer möglichst umfassenden Mitbestimmung – ein zentraler Terminus der Demokratiebildung – an. In einem solchen Verständnis ist es auch Aufgabe der Demokratiebildung, zu analysieren und zu erkennen, dass ihre institutionellen Strukturen – etwa die der Schule – nicht immer demokratisch sind und dass Mitbestimmung und dadurch Demokratiebildung erschwert werden. Hier lassen sich bspw. starke Anknüpfungspunkte an ein Verständnis politischer Bildung als Prinzip in der Schule finden.

JOURNAL: Welchen Begriff favorisieren Sie? Oder ist eine solche Bewertung nicht möglich, weil alle ihre spezifische und abgrenzbare Bedeutung haben und Sammelbegriffe obsolet sind?

Benedikt Sturzenhecker: Ich kann keine Entscheidung über einen präzisen und umfassenden Begriff fällen. Ich bin selbst sehr spezifisch positioniert. Die „Hamburger Schule der Demokratiebildung“ im Rahmen der Sozialpädagogik verwendet im Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe und besonders auf die Kinder- und Jugendarbeit (bzw. -bildung) seit Mitte der 2000er Jahre den Begriff der Demokratiebildung – zuerst 2004 bei Thomas Coelen. Den Begriff begründen wir so: Wenn Politik die Art und Weise, wie Menschen gemeinsam ihre öffentlichen Angelegenheiten regeln, meint, dann ist damit noch nicht normativ eine demokratische Position eingenommen, die genau die Qualität dieses „Wie“ bestimmen würde.

Die neuere sozialpädagogische Debatte versucht hingegen mit Bezug auf „Demokratie“, diese spezifische Qualität der Art und Weise der gesellschaftlichen Regelung des Zusammenlebens zu benennen. Wir sprechen von Demokratie, wenn ein Doppeltes gegeben ist: „demos“, d. h. ein souveränes „Volk“ von gleichberechtigten Mitgliedern, und „kratia“, d. h. eine „Herrschaft“ von formell geregelten, reversiblen Entscheidungen durch gemeinsam Betroffene. Dieses Konzept wird konkretisiert durch Bezugnahme auf Habermas‘ Konzept der deliberativen Demokratie und Deweys Forderung, Demokratie müsse über die Regierungsform hinaus eine Form des assoziierten und assoziierenden Lebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten lebensweltlichen Erfahrung sein.

Dieser Erfahrungsbegriff trifft sich mit einem Konzept von Bildung, das diese als selbsttätige Aneignung der Welt durch das Subjekt und die darin eingebettete reflexive Entwicklung der eigenen Person versteht. Bezogen auf die bildende Aneignung von Demokratie ging es also um die selbsttätige Praxis von Demokratie. Dieser, an demokratischer Performanz orientierte Begriff gesteht Kindern und Jugendlichen Expertise und Recht auf Mitentscheidung aufgrund ihrer Betroffenheit zu. Die demokratiepädagogische Aufgabe besteht dann darin, Adressat/-innen in Lebenswelt, (pädagogischen und zivilgesellschaftlichen) Organisationen, Kommune, Deutschland, Europa und der Welt mehr Rechte und Möglichkeiten einer konkreten demokratischen Mitentscheidung und Mitverantwortung der sie betreffenden Angelegenheiten zu eröffnen. Diese Position grenzt sich ab von einem Konzept politischer Bildung als Schulunterricht, das sich besonders auf Demokratie als Regierungsform bezieht und politisches Wissen und Kompetenzen didaktisch vermitteln will.

Alexander Wohnig: Ich favorisiere den Begriff „politische Bildung“ und verbinde damit ein Verständnis, das sich stark auf die normative Leitidee der Mündigkeit fokussiert. Im Mittelpunkt eines solchen Verständnisses steht der Kritikbegriff, denn Mündigkeit bedeutet in der Demokratie vor allem Kritikfähigkeit. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch in den Blick zu nehmen, zu analysieren und diese zu demokratisieren. Politische Bildung, die sich auf einen solchen Mündigkeitsbegriff bezieht, ist normativ auf ein Mehr an Demokratie gerichtet. „Kritik“ und „Bildung“ drücken eine Haltung aus, mit der der Wille zum Wissen und zur Wahrheit verbunden ist, aber auch das Eintreten und Handeln für vernünftige Verhältnisse.

Auf der Basis politischen Wissens sind politische Urteilsbildung sowie politische Handlungsfähigkeit zentrale Elemente politischer Bildung. Wissen soll dabei nicht kontextlos vermittelt werden, sondern die Angebote politischer Bildung sollten sich an der Lebenswelt der Adressat/-innen orientieren und diesen vielmehr Gelegenheiten zur Aneignung politischen Wissens schaffen. Auf dieser Basis sollte dann auch die Möglichkeit politischen Handelns in den Blick geraten. Auch hier sehe ich es als Aufgabe politischer Bildung, Gelegenheiten zum politischen Handeln zu schaffen.

Um noch einmal auf die Abgrenzungsversuche zurückzukommen: Politische Bildung in einem solchen Verständnis unterscheidet sich von der Demokratiepädagogik, die ein recht ausbuchstabiertes Feld mit eigenen Konzepten darstellt. Diese fokussiert auf das Ermöglichen von Erfahrungen mit Engagement in der Gesellschaft und auf gesellschaftliche Bildung und Lernen. Sie kann, so hat es Tillmann Grammes einmal formuliert, als „Soziologiedidaktik“ verstanden werden. Bei den Projekten der Demokratiepädagogik fällt auf, dass der gesellschaftspolitische Kontext des sozialen Handelns, bspw. in Projekten des Service-Learning, eher selten in den Blick gerät und dadurch das Moment der Kritik der bestehenden Verhältnisse, das für politische Bildung zentral ist, ausgespart bleibt. So kann bspw. in dem Engagement junger Menschen in sozialen Einrichtungen eine Anpassung an das Bestehende, etwa an die Ideologie der Aktivierung im Kontext des aktivierenden Wohlfahrtsstaates stattfinden. Als „Soziologiedidaktik“ jedoch kann die Demokratiepädagogik im Zusammenspiel mit einer wie oben verstandenen politischen Bildung eine umfassende sozialwissenschaftliche Bildung ermöglichen, sie ist aber dadurch noch keine politische Bildung.

JOURNAL: Wird der Traditionsbegriff „politische Bildung“, der u. a. mit Aufklärung, Kritik und Emanzipation verbunden ist, mit der Begriffsvielfalt – aktuell vor allem der Demokratiebildung – aufgelöst bzw. verwässert? Ist Demokratiebildung nicht eher eine Einengung der politischen Bildung?

Benedikt Sturzenhecker: In diesem Sinne scheint mir der hier eingeführte Begriff von Demokratiebildung (gerade in der aktuellen Krise von Demokratie) schärfer zu sein als ein allzu breiter Begriff von politischer Bildung. Die Ansprüche auf „Aufklärung, Kritik und Emanzipation“ sind hier meines Erachtens deutlicher aufgehoben als in einem entgrenzten Begriff des Politischen und einem allzu diffusen Konzept von Bildung. Insofern scheint mir gerade in dieser „Einengung“ eine Chance zu liegen. Sie böte dem zersplitterten Bereich der politischen Bildung an, sich auf einer präziser bestimmbaren Plattform zu treffen und dort, in neuem Bezug aufeinander, die unweigerlich verbleibenden konzeptionellen und begrifflichen Konflikte auszutragen. Mit einem gemeinsamen Bezug auf den „symbolischen Kern“ von Demokratie (Emanuel Richter), als gleichberechtigten Zugang zu und gleichrangige Beteiligung an einem intersubjektiven und öffentlichen Auseinandersetzungs- und Entscheidungsprozess zu Fragen der kooperativen Lebensgestaltung einerseits und andererseits auf Bildung als aktive Aneignungspraxis, hier im Sinne der Ausübung von demokratischer Mitentscheidung und Mitverantwortung in Lebenswelt, Institutionen, Kommunen und Staat, könnte ein neuer produktiver Bezug aufeinander fundiert werden.
Alexander Wohnig: Wir sollten hier unterscheiden zwischen der Theorie und der Begriffsverwendung sowie der Bildungspraxis. Begrifflich kann es durchaus als problematisch gelten, wenn das oben skizzierte Verständnis politischer Bildung, das mit dem Fokus auf Mündigkeit ebenso Aufklärung, Kritik, Emanzipation fokussiert, durch Begriffe abgelöst bzw. teilweise ersetzt wird, mit denen ein solch umfassendes Bildungsverständnis nicht verbunden wird. Es wäre aber ebenso problematisch, alles, was in der Praxis bspw. unter dem Begriff „Demokratieförderung“ geschieht, als „unkritisch“ oder verkürzt zu bezeichnen. Dort entstehen tolle Projekte, die mit einem hohen Anspruch politische Bildung betreiben.

Vielmehr erscheint es mir ebenfalls als zentral, Foren zu schaffen, in denen die verschiedenen und auch neuen Akteure zusammenkommen können und sich über ihre Praxis verständigen. Es besteht ein großes Bedürfnis bei neuen und alten Akteuren der politischen Bildung, sich über „ihr“ Verständnis politischer Bildung auszutauschen, Konzepte zu reflektieren und über Problematiken der staatlichen Eingriffe in die Bildungslandschaft zu diskutieren. Um die Frage zu beantworten: Wenn Demokratiebildung so verstanden wird, wie oben in meiner ersten Antwort skizziert, so ist sie doch anschlussfähig an politische Bildung, so wie politische Bildung mit dem Fokus auf Kritik anschlussfähig an eine solche Demokratiebildung ist. Eine problematische Einengung sehe ich vielmehr in dem Begriff und Konzept der (Extremismuspräventiven) Demokratieförderung.

JOURNAL: In der Förderpolitik ist die Demokratieförderung und -bildung seit einiger Zeit von großer Bedeutung, sie wird geradezu favorisiert. Welche Weichen werden damit förderpolitisch gestellt?

Benedikt Sturzenhecker: Es kann durchaus erschrecken, dass Demokratie als Bildungsinhalt in der Geschichte der Bundesrepublik immer dann Konjunktur hatte, wenn rechtspopulistische und -extreme Parteien Wahlerfolge erzielten. Trotz der durchgängigen Anstrengungen der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentralen geriet das Bildungsthema Demokratie immer wieder in Vergessenheit, wenn die populistischen und extremen Rechten weniger präsent waren. Demokratiebildung wurde so reduziert zu einer Maßnahme der Rechtsextremismusprävention.

Demokratiebildung zielt jedoch positiv auf die Realisierung der Rechte der Mitentscheidung und nicht negativ auf die Vorbeugung von Demokratiefeindlichkeit. Die förderpolitische Eingrenzung auf Prävention von Rechtsextremismus wäre eine konzeptionelle Verkürzung und Funktionalisierung der Ausübung demokratischer Rechte. Andererseits entsteht der bekannte Effekt: Alle verwenden für das, was sie ohnehin tun, nun den „förderfähigsten“ Begriff. Demokratiebildung wird so zum Marketingbegriff für Antragsteller. Das Gerangel um Fördermittel erzeugt konzeptionell-begriffliche Diffusität. Diese kann nur gemieden werden, wenn die an politisch-demokratischer Bildung Beteiligten einen gemeinsamen Diskurs um Begriffe, Inhalte, Arbeitsweisen und Qualität führen. Die oben genannten Versuche, wie das „Bündnis Bildung für eine demokratische Gesellschaft“, könnten eine dafür geeignete Plattform werden.

Alexander Wohnig: Zentral scheint mir hier, auf die Problematik des Begriffes der Demokratieförderung und die in der Förderpolitik damit verbunden Erwartungen hinzuweisen. Aus Sicht einer emanzipatorischen Bildung ist die Defizitzuschreibung zu kritisieren, die ihr zugrunde liegt, bspw. in Ausschreibungen des Bundes zu „Extremismusprävention und Demokratieförderung“. Viele Passagen der Ausschreibungen lesen sich, als sei „die Jugend“ potenziell antidemokratisch, weshalb erzieherisch interveniert werden müsse. Politische Bildung hingegen hat sich stets auch als ein Experimentierfeld der Demokratie verstanden, als einen Ort der Demokratisierung, des Freiraums. Dem liegt dann auch ein positives Jugendbild zu Grunde, in dem die Vorstellungen und Handlungen von jungen Menschen ernst genommen und als relevant betrachtet werden. Politische Bildung sollte ein Ort sein, an dem auf der Basis einer kritischen Analyse eine positive Vision und Utopie der Demokratie entwickelt und gelebt werden kann. Politische Bildung sollte sich nicht darauf beschränken, affirmativ das Bestehende zu vermitteln und erhalten zu wollen.

Für das Feld der politischen Bildung sehe ich daher die Aufgabe, emanzipative Konzeptionen und Formate zu stärken, die nicht negativ auf einen Ausschnitt der Jugend schauen, sondern alle Jugendliche als politische Subjekte adressieren. Hier gilt es auch achtsam zu sein und interessenpolitisch Stellung zu beziehen gegen eine Verkürzung politischer Bildung auf eine affirmative Demokratieförderung, die lediglich bewahren will und von sicherheitspolitischen Interessen getrieben ist.

JOURNAL: Haben Sie vielen Dank für die Kommentare.

Im Interview

Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker ist seit 2008 Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sozialpädagogik und außerschulischen Bildung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Dr. Alexander Wohnig ist akademischer Mitarbeiter an der Heidelberg School of Education (Universität und Pädagogische Hochschule Heidelberg). Seit Frühjahr 2017 ist er zudem Teil der erweiterten Journal-Redaktion.

Ein Beitrag aus