Wider die Versicherheitlichung

Benedikt Widmaier: Extremismuspräventive Demokratieförderung. Eine kritische Intervention. Frankfurt/Main (Wochenschau Verlag) 2022, 71 S., 9,90 €


In dem kleinen, siebzigseitigen Bändchen spricht Benedikt Widmaier eine Einladung zum Gespräch über die neuere, demokratiepolitische Ausrichtung der politischen Bildung aus. Seine langjährige Erfahrung mit förderpolitischen Debatten und in den Auseinandersetzungen um Ausrichtung und nicht zuletzt um die Verteilung von Mitteln in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sättigen zweifellos den Beitrag. Es wird ein Bogen geschlagen von den Anfängen der institutionalisierten politischen Bildung in Westdeutschland zu den anstehenden, aus Sicht des Autors irritierend distanziert geführten Debatten um die Neuordnung der föderalen Programme und Institutionen durch das sogenannte Demokratiefördergesetz. Dieses Gesetz wird die Funktion haben, über Jahre die Governance der außerschulischen politischen Bildung zu regulieren, und ist daher von immenser Bedeutung für alle in der politischen Bildung Aktiven in Deutschland. Zum Ende des Jahres 2022 soll der Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht werden. 

Die kleine Schrift bereitet auf die Debatte vor, und es ist höchst dankenswert, dass in dem hier vorgelegten Beitrag eine Position entwickelt wird, die fachpolitisch zweifellos eine Rolle spielen wird. Sie weist aber zugleich auch den politischen und konzeptionellen Raum aus, in dem sich eine solche, dringend notwendige Auseinandersetzung abspielen kann. Vor allem der fachhistorischen Dimension kann dabei gar nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt werden, verdanken wir ihr doch die Klärung einiger fortdauernden Idiosynkrasien, die im internationalen Vergleich als typisch für die deutsche politische Bildung gelten. 

In einem ersten großen Kapitel zur Geschichte zeigt Widmaier auf, dass sich die politische Bildung aus der Prämisse legitimiert hat, dass die deutsche Gesellschaft demokratisch stets prekär ist. Vertreter*innen dieser Sichtweise auf die Funktion von politischer Bildung, die Widmaier den erzieherischen Verfassungsschutz nennt, zeichnen die ‚Gefährdungen‘ der Demokratie immer als eine Möglichkeit. In der politischen Bildung stehen so konstruktive Zukunftsorientierung und Orientierungen auf eine demokratische Gestaltbarkeit von Gesellschaft stets hinter der vorsichtigen Heranführung an ein ausgewogenes Urteil und die Anbahnung politischen Vertrauens in die Demokratie zurück. Hiergegen kontrastiert Widmaier die kritische Pädagogik (23 ff.) und bedient sich der bekannten Erzählung zur Geschichte der politischen Bildung ab den 1970er Jahren. Wichtig ist ihm hierbei, eine enge Definition von politischer Bildung als stets mit der Politikdidaktik verbunden einzuführen, die sich von den mit bürgerschaftlichem Aktivismus verbunden Ansätzen des ‚creating civic learning spaces‘ völlig abgrenzen (24, so werden viele der Neuentwicklungen aus dem Bereich der politischen Bildung rigoros ausgeschlossen). Aber er erinnert gleichwohl daran, dass auch die an ‚kritische‘ Ansätze anschließende politische Bildung sich auf Bürger*innen als potenzielle Bedrohung der Demokratie bezieht, wenn sie seit den 1990er Jahren Programme der Extremismusprävention (‚gegen rechts‘) entwirft und pädagogische Interventionen in Prozesse der Radikalisierung regelmäßig in ihr Repertoire aufnimmt (26 ff.). Der Autor bestreitet nicht, dass in dieser Phase eine an Förderlogiken und politisch definierten ‚Notwendigkeiten‘ ausgerichtete Themensetzung der Träger zur Regel geworden ist, sodass von einer Bottom-Up-Dynamik in der zivilgesellschaftlichen Trägerlandschaft bereits zu diesem Zeitpunkt nur noch eingeschränkt gesprochen werden kann (29).

Die Mechanik der föderalen Vorhaben der 2010er Jahre, die er im zweiten Kapitel analysiert, weist noch stärker auf die kritisierte Ausrichtung. In der Legislaturperiode 2013–2017 wurden im Anschluss an die NSU-Attentate und an Taten aus dem Umfeld des islamistischen Extremismus Programme der Extremismusbekämpfung aufgelegt, die der Autor ebenfalls in diese Maßnahmenklasse einordnet. Er deutet vor allem das bedeutende Programm „Demokratie leben!“ (36ff.) als exemplarisch für das Hineingleiten in eine neue Struktur, durch die die alte Förderstruktur zunehmend ergänzt bzw. reformiert werden soll. Diese, so Widmaier, gelte als wenig innovationsfreundlich und werde so zwangsumgebaut, zugleich sei aber dieses Umbauprogramm selbst historisch „konservativ“, denn es schlösse ohne weiteres, so seine Deutung, an die demokratiepolitische Vorgehensweise des „erzieherischen Verfassungsschutzes“ an (37). Zugespitzt wird diese Strategie im bereits ab 2016 diskutierten Demokratiefördergesetz deutlich, das die neue u. a. durch das Programm „Demokratie leben!“ gesetzte Struktur stabilisieren soll: Es wurde, so beschreibt es Widmaier, eine Parallelstruktur zu den eingeführten, zivilgesellschaftlich verwurzelten Strukturen etabliert, die institutionell fast korporatistische Züge ausformt, wenn neue Demokratiezentren als Implementationsplattformen auf der Länderebene aufgebaut werden sollen, die von der föderalen Ebene finanziert werden. Das Leitbild der „wehrhaften Demokratie“, das diesen Maßnahmen zugrunde liegt, wird als politikdidaktisch unbrauchbar kritisiert, wobei nicht klar ist, wie diese normative demokratiepolitische Klammer einer Politik der politischen Bildung letztlich in der täglichen Bildungsarbeit wirksam wird (49). Programmatisch kann jedenfalls festgehalten werden, dass eine Versicherheitlichung und zumindest eine Instrumentalisierung der politischen Bildung für eine Politik der Inneren Sicherheit mit den (meisten) ihrer Ziele nicht kompatibel sind. Widmaier mahnt schließlich im dritten Teil des Bandes eine intensive Begriffsarbeit an. Er deutet die Folgen einer Deprofessionalisierung an, die dann eintreten wird, wenn (durch die allgegenwärtige Projektlogik der befristeten Programme ausgelöst) pädagogische Arbeit stets aufs Neue den Logiken der Engagementpolitik oder der Politik der Inneren Sicherheit untergeordnet und so von einer normalen Beruflichkeit abgekoppelt bzw. einem feldfremden Ressortprinzip anverwandelt werden muss. Ist diese, obwohl dem Leitbild zivilgesellschaftlicher Aktivierung verpflichtet, dann nicht umso gefährdeter für eine Regulierung durch staatliche Akteur*innen? 

Widmaier sieht es als erhebliches Problem, dass die politische Bildung als intrinsischer Teil von Bildung nie gesichert scheint, sondern sich stets an Bedrohungen und Defekten von Gesellschaft und Demokratie zu legitimieren und abzuarbeiten hat. Diese existenzielle Verbindung der politischen Bildung mit der Notwendigkeit von demokratischen Defekten ist in jeder Hinsicht eine große Belastung: Auch das zu diskutierende Demokratiefördergesetz trägt diesen Anspruch bereits im Namen. Es scheint daher notwendiger denn je, die Positionsbestimmung der politischen Bildung hinsichtlich ihres besonderen Beitrages zur Bildung und zur politischen und gesellschaftlichen Kultur und Zukunftsgestaltung der Demokratie in den Blick zu nehmen und begrifflich sorgfältig darzulegen und auszuhandeln. Die vorlegte „Intervention“ bildet hierfür einen hervorragenden Ausgangspunkt.

Die Rezensentin

Prof. Dr. Andrea Szukala, Professur für Fachdidaktik der Sozialwissenschaften, Universität Münster

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