Reflexivität und Mündigkeit als Ziele (in) der politischen Bildung

Stefan Müller: Reflexivität in der politischen Bildung. Untersuchungen zur sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik. Frankfurt/M. (Wochenschau Verlag) 2021, 262 S., 32,00 €


Bei dieser Monographie von Stefan Müller handelt es sich um die aktualisierte und erweiterte Fassung seiner kumulativen Habilitationsschrift, in der er eine Theorie und Didaktik reflexiver politischer Bildung und deren bildungspraktische Umsetzung konzeptualisiert.

In der theoretischen Rahmung seiner Arbeit, mit der Müller gesellschaftstheoretische Voraussetzungen für Multiperspektivität und damit Reflexivität und Mündigkeit herleitet, weist er mit Bezug auf Adorno und Luhmann dichotome und binäre Logiken zurück und differenziert im Anschluss an den Soziologen Steinert zwischen Rechthaberei bzw. Reflex und Reflexion, um damit zwei idealtypische grundlegende Denkfiguren voneinander abzugrenzen. Müller charakterisiert den Standpunkt der Rechthaberei bzw. des Reflexes als eine ‚Das ist so!‘-Haltung, die durch Proklamationen und Setzungen gekennzeichnet ist. Als Kriterien für reflexive Denkfiguren nennt er nicht-dichotome Perspektiven wie beispielsweise Offenheit statt Abgeschlossenheit, Kontroversität statt Standpunktlogik und Multiperspektivität statt Einseitigkeit. 

Nach Müller ist der Reflex eine Art binär-dichotomer Automatismus, die Reflektion nimmt Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt auf, wobei erst das Moment der Reflexivität bzw. Reflexion weite und offene Denk-, Urteils- und Handlungsmöglichkeiten eröffne, die Autonomie einschränkende Elemente in den Blick geraten lassen. Reflexive Prozesse ermöglichen dem sich bildenden Subjekt Mündigkeitszuwächse. Stefan Müller pointiert die Verschränkung dieser drei Ebenen, die auch rückläufig ineinander übergehen können, folgendermaßen: „Die Struktur des Reflexes ist notwendig in der Reflektion enthalten, um strukturell das Modell der Reflexion abzusichern und zu erhalten“ (150).

Im Kapitel Multiperspektivität und Reflexivität als Bezugspunkte politischer Bildung greift Müller die Kontroverse zwischen der kritischen und, wie er formuliert, der offenen politischen Bildung auf, die er nicht für zielführend hält, da er die Frage, „ob politische Bildung ihre Bezugnahmen auf Multiperspektivität und Reflexivität als offene und erweiterte oder als verengte und eingeschränkte Begründungsmuster konzeptualisiert“ (157), wobei er für ersteres plädiert, für entscheidend hält. Exemplarisch rekurriert er dabei auf Lösch, als Vertreterin der kritischen politischen Bildung, und auf Sander, als Vertreter der ‚offenen‘ politischen Bildung, und konstatiert, dass beide die didaktischen Prämissen Multiperspektivität, Reflexivität und Kritik ähnlich ausbuchstabieren, indem sie sich einig seien, dass „eindimensionale, affirmative und gesinnungsethische Ansätze zur Kritik stehen“ (162). Ob es sich dabei nicht lediglich um eine scheinbare oder gar konstruierte Einigkeit handelt, wäre eine interessante Fragestellung. 

Stefan Müller kennzeichnet die Positionen, die die Menschenwürde verletzen, als außerhalb (reflexiver) multiperspektivischer Denkweisen stehend und erläutert, dass auch politische Bildner*innen die eigene (gesellschaftstheoretische) Verortung samt Standpunkten reflexiv offenlegen und damit auch für Kritik öffnen sollten. Müller schließt dieses Teilkapitel ab, indem er die dichotome Gegenüberstellung von kritischer und ‚offener‘ politischer Bildung verwirft und als Erkenntnisinteresse fokussiert, „die jeweilig in Anspruch genommenen Konzeptionen und Begründungsmuster von Multiperspektivität, Reflexivität und Kritik [in den Blick zu nehmen und zu prüfen, R. B.], ob vorrangig im Rahmen einer reflexhaften Standpunktlogik verharrt oder der Horizont einer multiperspektivischen Reflexivität geöffnet wird“ (167).

Stefan Müller betont die besondere Relevanz der Mündigkeit als Begründung und Zielperspektive politischer Bildung und plädiert für eine reflexive, nicht-dichotome Konzeption von Mündigkeit. Er bezieht sich dabei auf Kant und Adorno, da sie „von einem spezifischen In-, Mit- und Gegenein­ander von Mündigkeit und Unmündigkeit ausgehen“ (198) und damit eine reflexive Perspektive aufweisen. Müller differenziert zwei idealtypische Konzeptionen von Mündigkeit. Zum einen das Konzept Mündigkeit als Selbst- oder Fremdbestimmung, welches er aufgrund seiner Dichotomie verwirft, zum anderen konzeptualisiert er Mündigkeit als Selbst- durch Fremdbestimmung, um das dialektische Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander zu fokussieren und es als reflexiv fruchtbar zu markieren. Das von Müller präferierte Konzept reflexiver Mündigkeit bewegt sich stets „im dialektischen Spannungsfeld von ‚Fremd- zur Selbstbestimmung‘“ (204).

In Teil III seiner Monographie fokussiert Müller die praktische Umsetzung seines Konzeptes der Reflexivität für die politische Bildung und zieht Schlüsse aus einem von ihm initiierten explorativen Kooperationsprojekt mit einer hessischen Fachoberschulklasse. Er unterscheidet zwischen additiver und reflexiver Multiperspektivität und betont, dass reflexive Perspektiven auf Relations- und Kontextwissen abzielten und damit von additiven Reihungen unterschiedlicher sowie rechthaberischen Positionen abzugrenzen seien. Im Kontext der unterrichtlichen Antinomie von Eigen- und Fremdbestimmung, in der sich – auf beiden Seiten – auch die Förderung und Untergrabung von Denk-, Urteils- und Handlungsmöglichkeiten spiegele, pointiert Müller, dass es ein Mit-, Neben- und Gegeneinander im Spannungsfeld der Pole reflexive Mündigkeit und instrumentelle Mündigkeit gebe.

Stefan Müller gelingt es in seiner Monographie, die Implikationen von Multi­perspektivität und Reflexivität theoretisch fundiert auszudifferenzieren und sie für ein reflexives Mündigkeitskonzept fruchtbar zu machen. Inwieweit Studierende, politische Bildner*innen und sogar Wissenschaftler*innen in der Lage sind, sozialwissenschaftliche Bildungsprozesse so zu gestalten, wie es Müller konzeptionell fundiert ausbuchstabiert, wäre eine spannende Fragestellung für die sozialwissenschaftliche qualitative Sozialforschung, da sich die These aufstellen ließe, dass das Gros der genannten Akteur*innen wenig bis kaum mit kritischen Gesellschaftstheorien in Berührung gekommen ist – zumal solche kritischen Theorien der Gesellschaft inzwischen an den Universitäten marginalisiert sind. Da kritische Gesellschaftstheorien in den politischen Bildungsprozessen weitgehend außen vor bleiben und somit häufig außerhalb der Reflexion der Lehrenden und damit auch der Lernenden bleiben, bedeutet das, dass Kontroversität, Multiperspektivität sowie Reflexivität und damit reflexive Mündigkeitskonzepte per se derzeit nur eingeschränkt eingelöst werden können.

Nichtsdestotrotz ist diese Studie sowohl für die schulische als auch die außerschulische politische Bildung hoch relevant, da sowohl zentrale Aspekte zur Begründung der Notwendigkeit von Mündigkeit als Leit­orientierung als auch als Ziel politischer Bildung theoretisch elaboriert entwickelt werden.

Zitation:
Blasche, Ralph (2021). Reflexivität und Mündigkeit als Ziele (in) der politischen Bildung. Rezension zu: Stefan Müller: Reflexivität in der politischen Bildung. Untersuchungen zur sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik, in: Journal für politische Bildung 3/2021, 64-65.

Der Autor

Ralph Blasche ist Studienrat für die Fächer Politik & Wirtschaft, Philosophie, Ethik und Deutsch an einem Oberstufengymnasium in Frankfurt/M.

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