Politische Erwachsenenbildung im Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen

„Die politische Erwachsenenbildung muss endlich aus der eigenen Filterblase heraus!“ lautet die einhellige Überzeugung im Rahmen einer Fortbildung zur inklusiven Gestaltung von Seminaren mit heterogenen Gruppen bei Arbeit und Leben. Gerade im Vergleich zu progressiveren Tendenzen in der politischen Jugendbildung stellten noch fehlende Repräsentationen und Perspektivenvielfalt strukturelle Herausforderungen dar, da sie unweigerlich zur Reproduktion defizitärer Sichtweisen – und damit weiterer Stigmatisierung und Ausgrenzung – führen könnten, so die weitere Argumentation.

Dabei zählt gerade die politische Bildung mit Erwachsenen mit rund 280 Veranstaltungen pro Jahr zu einer der zentralen Aufgaben von Arbeit und Leben. Sie hat zum primären Ziel, durch Bildung zur Realisierung einer demokratischen Kultur mit Partizipationsmöglichkeiten für alle Menschen beizutragen und vor allem diejenigen zur erreichen, die aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen als „benachteiligt“ beschrieben werden. Zum Kernprofil der 1948 von DGB und VHS gegründeten Bildungsorganisation gehörte es im Besonderen, sich mit politischer Bildung an Arbeitnehmer*innen zu richten, die häufig zu den sozial wie bildungsspezifisch benachteiligten Zielgruppen zählten. Wer unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Realitäten jedoch zu benachteiligten Gruppen zählt, was Benachteiligung heute ausmacht und welche zentralen Frage- und Themenstellungen die „unsichtbar“ verbleibenden Betroffenen beschäftigen, stellt eine methodisch wie didaktisch wichtige Herausforderung für die politische Bildungsarbeit dar.

Der Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben hat sich zur Aufgabe gemacht, systematisch auf diese Fragen zu antworten und ist im August 2019 mit Förderung durch die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mit dem Modellprojekt „Blickwechsel: Neuausrichtung der Zielgruppenarbeit in der politischen Erwachsenenbildung bei Arbeit und Leben“ gestartet. In bundesweiter Kooperation mit allen 14 Landesarbeitsgemeinschaften wird das Ziel verfolgt, die Modernisierung der politischen Erwachsenenbildung durch zielgerichtete Fortbildungsangebote für die haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitenden zu realisieren und gemeinsam ein aktualisiertes Bildungsprogramm zu erarbeiten.

Für wen sind wir erreichbar und wen wollen wir erreichen?
Das Modellvorhaben begann mit einer Evaluation des bundesweiten Bildungsangebots mit Fokus auf Themen, Formate und Methoden der politischen Erwachsenenbildung sowie die erreichten Teilnehmenden nach milieuspezifischen Interessen. Die hierbei zentralen Befunde verdeutlichten, dass beruflich, sozial oder bildungsbenachteiligte Zielgruppen unter hohem Ressourcenaufwand über aufsuchende Bildungsformate sowie unter Einbeziehung von Schlüsselpersonen und Kooperationspartnern vor Ort erreicht werden. Damit erfüllen diese Formate die mit dem Kernprofil von Arbeit und Leben verbundenen Ansprüche. Hinsichtlich „klassischer“ Seminare bleiben jedoch Personen aus den genannten Gruppen – gemeinsam mit diversen Zielgruppen in der Altersspanne zwischen 30 und 40 Jahren – tendenziell eher unterrepräsentiert. So haben beispielsweise nur 7% aller Teilnehmenden in der politischen Erwachsenenbildung einen Migrationshintergrund, was deutlich hinter den gesellschaftlichen Realitäten in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 26 % von Menschen mit Migrationshintergrund bleibt.

Im Rahmen der Auftaktveranstaltung des Modellprojekts wurden vier Schwerpunkte mit den Bildungsreferent*innen von Arbeit und Leben definiert, die als Ausgangsbasis für die gemeinsame Weiterarbeit an neuen Konzepten verstanden wurden. Diese umfassen (1) die Erreichbarkeit von Zielgruppen, (2) die Bedürfnisse von Teilnehmenden, (3) die Lebensrealitäten sowie (4) die Bedeutung politischer Bildung aus Perspektive der Teilnehmenden. Seit 2020 wird dazu eine kontinuierliche Fortbildungsreihe durchgeführt, die sich aus einer Kombination von Workshops mit externer Begleitung von Expert*innen und kürzeren Austauschtreffen in Form eines digitalen „jour fixe“ zu aktuellen Fragen zusammensetzt und auf einem diversitätssensiblen Netzwerk an bundesweit aktiven Kooperationspartnern aufbaut, welches von Bildungs- und Beratungszentren, Forschungsinstituten, Mi-grant*innenselbstorganisationen bis hin zu Nichtregierungsorganisationen reicht.

Raus aus der eigenen Filterblase
Gemeinsam mit Referierenden der Bildungsstätte Anne Frank fand z. B. im März 2020 eine Veranstaltung zu diversitätsorientierter Öffentlichkeitsarbeit statt, in der die Homepages sowie die Publikationen und Flyer von Arbeit und Leben reflektiert wurden. Kritisch wurde untersucht, wo sich mögliche Zugangsbarrieren verbergen, sowie der Frage nachgegangen, wessen Lebensrealitäten im Rahmen der bildlichen und sprachlichen Darstellungen repräsentiert werden. Gemeinsam wurden anschließend Kriterien zum Abbau von Barrieren sowie zur inklusiven Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit in einer Handreichung zusammengefasst. Gemäß der Überzeugung „Raus aus der eigenen Filterblase“ wurden die Rolle und Qualifikation der politischen Bildner*innen bei Arbeit und Leben hervorgehoben mitreflektiert: „Es bringt wenig, wenn wir diversitätsbewusste und inklusive Realitäten in unserer Werbung und Publikationen repräsentieren, solange sich diese nicht vermehrt in unseren Seminaren und unserer Organisation spiegeln“, äußerte exemplarisch eine Bildungsreferentin.

Geprägt von den ungewissen Aussichten angesichts der Covid-19-Pandemie und der damit einhergehenden Beschränkungen für Präsenzformate, wurde zunächst über digitale Formate versucht, das Bildungsangebot diesem Anspruch gemäß weiterzuentwickeln. Hierbei entstanden Action-Bound-gestützte Online-Seminare, die sich thematisch mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Diversität, der Multiperspektivität von Flucht und Migration sowie den Komplexen Klimawandel und Nachhaltigkeit in Form von interaktiven Guides beschäftigen. Parallel wurden kurze digitale Abendveranstaltungen zu aktuellen politischen Themen erprobt, die bis Ende 2020 kostenfrei angeboten und vermehrt über soziale Netzwerke verbreitet wurden. So konnte ein erster Zugang zu Zielgruppen gewonnen werden, die keine bis wenig Berührung mit Formaten der politischen Bildung hatten.

Begleitung der strategischen Entwicklung
Der weitere Diskurs um barrierearme Gestaltung von digitalen Formaten (September 2020) sowie unterschiedliche Tools und Methoden für heterogene Zielgruppen (Oktober 2020) wurde von einer externen Expertise zur „Digitalen Didaktik in der politischen Erwachsenenbildung bei Arbeit und Leben“ seitens des SINUS-Instituts begleitet. Bis Ende 2020 wurden die Herausforderungen und Dimensionen der digitalen Transformation genauer untersucht und Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung und Verstetigung von digitalen Formaten identifiziert. Im Rahmen von „Transferworkshops“ wurden die Ergebnisse und abgeleiteten Handlungsbedarfe im Rahmen des digitalen Wandels gemeinsam mit den Autor*innen diskutiert. Ein Ergebnis stellt hierbei der gemeinsam geplante „Aktionstag digitale politische Bildung“ (Oktober 2021) dar.

Bildungsformate „vor Ort“ unter Berücksichtigung von Perspektivenvielfalt
Im diesjährigen Verlauf des Modellprojekts liegt das Hauptaugenmerk zunehmend auf aktuellen Realitäten und Bedarfen für die Bildungsarbeit „vor Ort“. Mit allen Landesarbeitsgemeinschaften wurden individuelle Bedarfsanalysen durchgeführt, um „blinde Flecken“ aufzuspüren und vorwiegend aufsuchende Bildungsformate für ländliche und urbane Räume zu konzipieren. Hauptziel ist, politische Erwachsenenbildung inhaltlich und räumlich an die Lebenswelten vor allem von bildungs- und sozial benachteiligten Gruppen ohne defizitäre Sichtweisen anzupassen und dort umzusetzen, wo diese Menschen zu finden sind: am Arbeitsplatz, in Vereinen oder an „zentralen“ lokalen Orten und Plätzen.

Dazu wurden bislang die bestehenden lokalen Kooperationen und Netzwerke bundesweit untersucht sowie die strukturelle Diversität von Arbeit und Leben am Beispiel der bereits bestehenden Bildungsangebote, der Mitarbeitenden und Referierenden zusammengefasst. Für den weiteren Verlauf sind Best-Practice-Workshops zu den Ergebnissen geplant, um „Experimentierräume“ zur weiteren Entwicklung von Formaten und Erkundung von Lernerfahrungen von Teilnehmenden zu schaffen.

Die bisherige Vernetzung und Kooperation im Modellprojekt gilt es insgesamt weiter zu differenzieren und Qualitätskriterien zur Ansprache und Gewinnung benachteiligter Gruppen aus der Praxis abzuleiten. Der Erfolg der „Neuausrichtung der Zielgruppenarbeit“ wird sich vor allem an den Zugangsmöglichkeiten von benachteiligten Gruppen messen und bedeutet damit zugleich eine kontinuierliche Aufgabe, die Arbeit und Leben weiterhin strukturell und strukturiert angeht.

Zitation:
Čolić, Samir (2021). Politische Erwachsenenbildung im Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen. Einblick in das Modellprojekt „Blickwechsel“ von Arbeit und Leben, in: Journal für politische Bildung 4/2021, 58-59.

Der Autor

Samir Čolić, Pädagogischer Mitarbeiter und Bildungsreferent beim Bundes­arbeitskreis Arbeit und Leben.

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