Politische Bildung postmigrantisch – die Neuen Deutschen Organisationen (ndo)

Meral El ist Geschäftsführerin der ndo, des größten postmigrantischen Netzwerks von ca. 130 Organisationen, ­Verbänden und Initiativen in Deutschland. Seit vielen Jahren forscht und arbeitet sie im Bereich Stiftungen, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen zu den Themen Rassismus, Teilhabe und Antidiskriminierungspolitik. U. a. hat sie 2017 gemeinsam mit Karim Fereidooni den Sammelband „Rassismuskritik und Widerstandsformen“ herausgegeben.

Journal: Seit wann gibt es das Netzwerk der ndo und was war der Anlass seiner Gründung?

Meral El: Das Netzwerk wurde 2015 gegründet. Hintergrund waren die Sarrazin-Debatte, die Demonstrationen von PEGIDA, ein spürbar wachsender Rassismus in der Gesellschaft, zunehmender Rechtsextremismus und die Erfahrungen mit dem NSU (Nationalsozialistischer Untergrund). Die Motivation war, mit unterschiedlichen Akteuren zusammenzukommen, die in vergleichbarer Weise von diesen Entwicklungen betroffen waren.

Journal: Was macht die ndo aus?

Meral El: Viele unserer Mitglieder sind in Dachverbänden organisiert. Diese sind überwiegend herkunftsbezogen, manchmal auch herkunftsübergreifend strukturiert und machen seit Jahrzehnten eine hervorragende Arbeit. Wir haben gemerkt, dass zusätzlich ein Bedarf nach einem niedrigschwelligen Netzwerk von Migrant*in­nen­organisationen besteht. Ein Netzwerk ist weniger formalisiert, es ist dadurch flexibler und offener und versteht sich als ergänzende Struktur. Dort treffen sich vielfältige Gruppen, die rassistische Diskriminierungserfahrungen machen. Das Ziel ist, die Sichtbarkeit dieser Gruppen zu erhöhen sowie Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten bzw. sich mit großer Kraft dafür einzusetzen. Das Netzwerk bietet eine Plattform, sich auszutauschen, sich zu vernetzen, gemeinsam Ideen zu entwickeln und gemeinsame Aktionen zu planen. Die ndo bieten kleinen Initiativen, aber auch großen Dachverbänden die Möglichkeit, in einem Netzwerk zusammenzukommen und Synergien zu schaffen.

Journal: Sie beschreiben das Netzwerk als postmigrantisch. Wie verstehen Sie diesen Begriff?

Meral El: Es gibt verschiedene Definitionen. Wir verstehen unter postmigrantisch, dass für Menschen, die seit Generationen, ihr Leben lang oder die längste Zeit ihres Lebens ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, die Markierung „migrantisch“ nicht angemessen ist. Was ist an einer Migrant*innenorganisation, deren Mitglieder schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben und sich für diese Gesellschaft engagieren, noch migrantisch?


Wir sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft und wir haben etwas einzubringen



Journal: Die ndo haben ein Manifest für eine plurale Gesellschaft verfasst. Was sind die zentralen Aspekte dieser Erklärung?

Meral El: Eine starke Demokratie zeigt sich aus unserer Sicht am Umgang mit marginalisierten Minderheiten. Dazu gehören rassistisch diskriminierte Gruppen, was unser Fokus ist, aber auch LGBTQI-Communities oder Rom*nja und Sinti*zze-Communities, für diese Gruppen gilt eine besondere Fürsorgepflicht des Staates. Wir fordern Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle. Für uns ist außerdem sehr wichtig, dass wir als People of Color, als Schwarze Menschen, als Bindestrich-Deutsche, also als Menschen, die rassistische Diskriminierungserfahrungen machen, aktiver Teil der Lösung des Demokratieproblems in Deutschland sind. Ob zivilgesellschaftlich oder in der Politik, wir übernehmen überall Verantwortung, erarbeiten Positionspapiere und haben Forderungen. Jedoch werden wir vor den Bedrohungen, denen wir als rassifizierte Gruppen in Deutschland ausgesetzt sind, nicht konsequent genug beschützt. Die Anzahl verbaler und körperlicher Angriffe nimmt zu, die rechtsextremistische Terrororganisation NSU sowie weitere, rechtsex­tremistisch motivierte Anschläge wurden viele Jahre als Taten geistig verwirrter Ein­zel­täter verharmlost. Seit vielen Jahren weisen wir darauf hin, dass es sich um organisierten Rechtsterrorismus handelt, doch unsere Expertise und unsere Recherchen wurden und werden kaum wahrgenommen.

Es muss selbstverständlich sein, dass wir in allen gesellschaftlichen Belangen gehört werden und nicht nur, wenn es um Integration geht. Wir müssen gefragt werden, wenn es z. B. um Gesundheit geht, um Altersvorsorge oder Verbraucherschutz. Wir haben die Expert*innen und sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Wir haben etwas einzubringen, wenn es um Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen geht, und das sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.

Journal: Sie haben 2018 ein Dossier veröffentlicht, in dem sie aufzeigen, dass ein Mangel an empirischen Daten zu Gleichstellung und Diskriminierung besteht. Worauf zielt diese Stellungnahme ab?

Meral El: Wenn wir Interessen der rassistisch diskriminierten Gruppen wirkungsvoll vertreten und Diskriminierung in der Gesellschaft abbauen wollen, brauchen wir aussagekräftige Daten, die bestehende Probleme erfassen. Um diesen Prozess anzustoßen, haben wir das Dossier veröffentlicht, ein Fact Sheet herausgegeben und drei Videos produziert. Wir wollten Wege aufzeigen, Minderheiten und deren Problemlagen und Bedarfe nach menschenrechtlichen Standards zu erfassen, um zielgerichtete Maßnahmen zu entwickeln. Diese Aktion sollte auch Befürchtungen entkräften, dass die Erfassung solcher Daten dazu beitragen könnte, dass der Rassismus in der Gesellschaft steigt. Ebenfalls gilt es, sich mit den Ängsten auseinanderzusetzen, die eine Erfassung von Minderheiten in einem Land auslöst, das für den Holocaust verantwortlich ist.

Es geht darum, das Ausmaß der Erfahrungen von rassistischer Diskriminierung zu erforschen sowie Daten darüber zu gewinnen, wie viele Menschen aus Gruppen, die rassistische Diskriminierung erfahren, in Ministerien, Behörden und Verwaltungen arbeiten. Sind diese Gruppen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil dort repräsentiert?

Für diesen Prozess können die Erfahrungen mit der Gleichstellungspolitik von Frauen sehr hilfreich sein. Sie ist zwar sicherlich noch ausbaufähig, aber es gibt Erfahrungen mit der Gestaltung und Steuerung dieser Prozesse. Grundsätzlich gilt: Wenn der Ausschluss oder die Nicht-Teilhabe in einer Gesellschaft ein zu großes Ausmaß einnimmt, dann werden die Prinzipien einer Demokratie nicht eingelöst und es ist ein hohes Demokratiedefizit zu konstatieren.

Journal: Eine solche Strategie wird oft auch als Identitätspolitik kritisiert. Wie rea­gieren Sie auf diesen Vorwurf?

Meral El: Das ist ein altbekanntes Muster in der politischen Debatte. Sobald eine spezifische Gruppe um Rechte kämpft, die den Rechten des heterosexuellen Cis-Mannes entsprechen, wird diese Kritik laut. Wichtig ist, argumentativ konkrete Forderungen zu begründen und inhaltlich zu diskutieren. Selbstverständlich ist das eine strategische Identitätspolitik. Diese ist jedoch erforderlich, wenn Gruppen, die keine Sichtbarkeit haben und unter Diskriminierung leiden, sich für Teilhabe und Repräsentation einsetzen.

Denn eigentlich betreiben die dominanten Gruppen schon seit geraumer Zeit zielstrebig ihre Identitätspolitik zur Bewahrung ihrer Privilegien und werfen aus dieser Position anderen Gruppen vor, Identitätspolitik zu betreiben, wenn diese lediglich erreichen wollen, was andere schon längst realisiert haben. Es gilt, Bewusstsein für gleiche Rechte und das Recht auf Teilhabe zu bilden, um eine plurale, inklusive Gesellschaft zu schaffen.

Journal: Die ndo haben sich an der Erarbeitung einer Anti-Rassismus-Agenda 2025 der Bundeskonferenz der Migrant*in­nen­organisationen beteiligt, die in die Beratungen des Kabinettsausschusses der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsex­tremismus und Rassismus eingebracht worden ist.
Meral El: Die ndo sind Teil der Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen und haben an der Formulierung dieser gemeinsamen Agenda mitgewirkt. Eine zen­trale Forderung ist, dass wir eine gesetzlich verankerte Definition von institutionellem und strukturellem Rassismus benötigen. Solange es diese nicht gibt, sind wir immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass das Problem nicht wirklich erfasst werden kann und wir nicht zu unserem Recht kommen. In Berlin haben wir das Landesantidiskriminierungsgesetz, das ist ein Meilenstein in der Demokratieentwicklung. Wir fordern ein Bundesantidiskriminierungsgesetz, da das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in gewissen Bereichen wie Bildung und Polizei nicht greift. Ebenso fordern wir ein Bundespartizipationsgesetz, das von Landespartizipationsgesetzen flankiert wird. In diesen Gesetzen muss die Quotierung von Menschen mit sogenannter Migrations­geschichte und rassistischen Diskriminierungserfahrungen festgehalten werden. Weiterhin fordern wir analog dem Deutschen Ethikrat einen Migrationsrat.

Grundsätzlich gilt: Überall dort, wo es Strukturen der Partizipation und Teilhabe schon gibt, aber rassifizierte Menschen nicht mitgedacht sind, sind diese mitzudenken und aufzunehmen.


Postmigrantische Perspektiven in der politischen Bildung



Ich würde gerne noch etwas zur besonderen Situation der sogenannten Dritt­staat­ler*innen sagen. Wir wollen das allgemeine Wahlrecht für alle Einwohner*innen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, erreichen. Das Wahlrecht darf nicht vom Pass oder von einer Mindestaufenthaltsdauer abhängig sein. Wer seit fünf Jahren seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland hat, sollte auch das allgemeine Wahlrecht haben. Zudem benötigen wir eine Reform der Einbürgerungspolitik. Dass Menschen, die z. B. seit zehn Jahren in Deutschland leben und arbeiten, hier ihren Lebensmittelmittelpunkt haben, aber auf Bundes- und Landesebene nicht wählen dürfen, hängt mit dem aktuellen Einbürgerungsrecht zusammen. Man kann z. B. Jugendlichen nicht erklären, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind, wenn ihre Familien sich seit zehn Jahren in einem Daueraufenthaltsstatus befinden und nicht wählen dürfen.

Journal: Die ndo sind Mitglied des Kompetenznetzwerks „Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“. Was sind die Aufgaben des Kompetenznetzwerks und welche Aufgaben haben die ndo in diesem Netzwerk übernommen?

Meral El: Zum Kompetenznetzwerk gehören insgesamt fünf Organisationen: Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Türkische Gemeinde in Deutschland e. V., Bundes­verband russischsprachiger Eltern e. V., Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und wir. Das Netzwerk wird aus Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert. Unsere Aufgabe ist die Beratung der Akteur*innen des Bundesprogramms mit unserer fachlichen Expertise. Es geht darum, Methoden anzubieten, um Menschen anzusprechen, die kritisch gegenüber der Migrationsgesellschaft sind, und diejenigen zu mobilisieren, die sie befürworten. Wir vermitteln Expert*innen, wir wollen postmigrantische Perspektiven in den öffentlichen Diskurs einbringen, wir bieten Qualifizierungsmaßnahmen zum Umgang mit Social Media und Pressearbeit an für Sinti*zze und Rom*nja, Schwarze Deutsche, People of Color sowie Menschen, die sich als jüdisch, muslimisch und/oder Geflüchtete bezeichnen. Wir organisieren Workshops für Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu Öffentlichkeitsarbeit und beraten Akteur*innen bei der Gestaltung ihrer Angebote in Hinblick auf postmigrantische Perspektiven.

Journal: Können die Akteur*innen der politischen Bildung die Expertise der ndo in Anspruch nehmen und sind die ndo an Kooperationen mit Einrichtungen der politischen Bildung interessiert?

Meral El: Wir verstehen uns selbst als ein Akteur der politischen Bildung durch die Veranstaltungen und Workshops, die wir durchführen, und durch unsere Publikationen. Weiterhin beraten und unterstützen wir Träger der politischen Bildung. Wir vermitteln Expert*innen zu Workshops, Paneldiskussionen, Open Spaces usw. und bringen dort postmigrantische Perspektiven ein und sind grundsätzlich an Kooperationen interessiert.

Die Fragen für das Journal stellte Klaus Waldmann, leitender Redakteur.

Zitation:
Waldmann, Klaus (2021). Politische Bildung postmigrantisch – die Neuen Deutschen Organisationen (ndo). Interview mit Meral El, in: Journal für politische Bildung 1/2021, 50-52, DOI https://doi.org/10.46499/1669.1811.

Im Interview

Meral El ist Geschäftsführerin der ndo, des größten postmigrantischen Netzwerks von ca. 130 Organisationen, ­Verbänden und Initiativen in Deutschland. 

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