Machen statt warten

Rumänien wird oft mit Armut und Korruption in Verbindung gebracht. Es liegt auf Platz 63 des Demokratieindex und wird damit als „unvollendete Demokratie“ gekennzeichnet. Doch Jugendliche und junge Erwachsene insbesondere aus dem Bildungsbürgertum sagen den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen ihres Landes den Kampf an und begegnen ihnen mit Engagement und Kreativität. Die Sommerschule des Studentenvereins Gutenberg e. V. zeigt, welches Potential in jugendlichen Graswurzelbewegungen steckt und wie diese durch internationalen Jugendaustausch gestärkt werden.


Die Sommerschule des Studentenvereins Gutenberg e. V.
Gutenberg e. V. ist ein deutschsprachiger Studentenverein in Rumänien. Sein Ziel ist die Förderung der deutschen Sprache und Kultur sowie die Förderung deutschsprachiger Studienrichtungen der Babeş-Bolyai-Universität in Cluj/Klausenburg. Die Mitglieder initiieren verschiedene Projekte der non-formalen Bildung, z. B. deutschsprachige Film- und Karaokeabende, Einführungswochen für Erstsemes­ter, Sommer- und Winterschulen zu Projektmanagement und Unternehmertum usw. In der jährlichen Sommerschule, bei der ich 2018 hospitierte, bekommen deutschsprachige Schüler*innen aus den Klassenstufen 9 bis 12 die Gelegenheit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, gleichzeitig Projektmanagement zu lernen und durch eigene Projekte gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Bis zu 250 Jugendliche aus allen Regionen Rumäniens erfahren dabei, „wie sie selbst Einfluss auf die Gesellschaft nehmen können“. In Workshops, die, sobald es das Sprachniveau der Gruppe zulässt, auf Deutsch durchgeführt werden und Themen wie Konfliktmanagement, Leadership und Überzeugungskraft behandeln, erwerben die Teilnehmenden Projektmanagement-Kompetenzen und entwickeln eigene Projekte. Im Nachgang von Sommerschulen finden z. B. Bildungs- und Kulturabende, Deutschkurse, Workshops zur Potenzialentfaltung statt, die ehrenamtlich organisiert werden und kostenlos und niedrigschwellig für andere Jugendliche zugänglich sind. Auch eine Versammlung aller Jugendvereine, um Erfahrungen auszutauschen und eine gemeinsame Strategie für zukünftige Projekte zu entwickeln, folgte auf eine Sommerschule.

Bei den Projekten des Gutenberg-Vereins zeigen junge Erwachsene, v. a. Studierende, anderen Jugendlichen, „dass sie organisiert denken und ein Projekt planen müssen, wenn sie ein Problem in ihrer Gemeinschaft bekämpfen oder eine Situation ändern wollen“. Der Sozialraum der Jugendlichen, also insbesondere der Wohnort, die Schule, die Universität, wird als Erprobungsraum gesehen, von dem Veränderungen für das ganze Land ausgehen können.

Sprache und Projektmanagement als Zugänge zu politischer Bildung
Sowohl die Gründungsmitglieder als auch der heutige Kern des Vereins sind Studierende aus deutschsprachigen Studiengängen. Sie haben in Rumänien deutschsprachige Schulen besucht und bei Auslands­aufenthalten informelle und non-formale Bildung kennengelernt.


Interesse an Fremdsprachen wird für Europa-Bildung genutzt



Sie kritisieren das rumänische Schulsystem, das schlecht ausgestattet sei und junge Talente zu wenig fördere. Es fehle die Anleitung zum kritischen Denken, zum Diskutieren und zur Partizipation, kurz: politische Bildung. Diese Lücke gelte es zu schließen, indem man talentierte, ehrgeizige und zielstrebige Schüler*innen fördere. Die Teilnehmenden der Bildungsangebote werden über ihr Interesse an der deutschen Sprache und an beruflich relevanten Projektmanagement-Skills, die beide auch den Zugang zum westlichen Europa versprechen, für die Aktivitäten des Vereins begeistert. Sie wirken bei der Planung von Projekten mit und werden dadurch zu zivilgesellschaftlichem und unternehmerischem Engagement befähigt. Workshop-Themen wie „Leadership“, „Verantwortung“ und „Projektmanagement“ sowie eine groß angelegte Projekt­simulation nutzen das große Interesse der Jugendlichen an Wirtschaft und Karriere und stoßen Diskussionen und erfahrungsorientiertes Lernen rund um gesellschaftspolitische Fragen an.

Sprach- und Projektmanagement-Unterricht sind somit die zentralen Zugänge des Vereins, um Jugendliche politisch zu bilden, für gemeinnütziges Engagement zu begeistern und sie zu „Changemakern“ auszubilden. Sowohl der Ansatz, Interesse an Fremdsprachen für Europa-Bildung zu nutzen, als auch jener, mit Projektmanagement-Einheiten zu politischer Bildung einzuladen, könnten auch die politische Bildung in Deutschland bereichern und für bestimmte Zielgruppen attraktiv machen. Diese Zugänge können dazu beitragen, politische Bildung in die Breite zu tragen und sie in der Lernbiografie möglichst vieler Jugendlicher zu verankern.

Selbstorganisation
Fragen rund um Peer-to-Peer-Education und Jugendselbstorganisation werden in Deutschland seit vielen Jahren intensiv diskutiert. Eine Sommerschule mit 250 Teilnehmenden und ca. 50 jugendlichen Teamenden als besondere Form jugendlicher Selbst­organisation zeichnet ein differenzierteres Bild davon, unter welchen Bedingungen die Selbstorganisation Jugendlicher und Peer-to-Peer-Formate funktionieren können: Der reibungslose Ablauf und die öffentliche Aufmerksamkeit belegen, dass Jugendliche durchaus große Projekte realisieren und die gelegentlich fehlende Strukturiertheit durch Begeisterung, Engagement und die Bereitschaft zu Höchstleistungen kompensieren können. Eventuell hätte eine Projektleitung die jungen Erwachsenen vor vielen Nachtschichten und 18-Stunden-Arbeitstagen bewahrt, aber auch die Authentizität der Ergebnisse und die Selbstwirksamkeitserfahrung der Verantwortlichen verringert. Das Fehlen sozialpädagogischer Fachkräfte wurde jedoch problematisch, wenn es um den Umgang mit sozialen Auffälligkeiten und psychischen Problemen einzelner Teilnehmender ging. Die Teamenden hatten zwar alle eine Mini-Juleica mit umfangreichen Abschlussprüfungen absolviert und manche sogar an Juleica-Schulungen in Deutschland teilgenommen. Das konnte jedoch nicht die fehlende pädagogische Ausbildung kompensieren und führte an manchen Stellen zu Überforderung. Es zeigte sich, dass Fachkräfte zur Begleitung der Gruppendynamik und zum Schutz vor psychologischer Überforderung unverzichtbar sind. Auch bei der Sicherstellung von Kontinuität leisten Hauptamtliche eine wichtige Rolle.

Die Bedeutung von internationalem Austausch
Der Verein ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie internationaler Jugendaustausch auf individueller, vor allem aber auf gesellschaftlicher Ebene wirkt. Die Jugendlichen, die den Kern des Vereins bilden, haben dank Jugendaustauschprojekten eine neue Form von Bildung kennen und schätzen gelernt. Diese Begeisterung hat sie, weit über das jeweilige Projekt hinaus, dazu motiviert, das Erlebte in ihre Heimat zu „importieren“ und anderen Jugendlichen zugänglich zu machen. Diese Erfahrungen wirkten als ein Motivationskick, der nach der Rückkehr nicht verhallte, sondern in Engagement vor Ort mündete. Die Frage, ob der Aufwand zur Förderung internationaler Begegnungen gerechtfertigt sei, lässt sich nach den Eindrücken aus dem Vereinsleben des Gutenberg e. V. uneingeschränkt positiv beantworten. Auch eine Öffnung von Bildungsangeboten in Deutschland für Teilnehmende aus dem europäischen Ausland wäre erstrebenswert. Die Einbindung einzelner Jugendlicher beispielsweise aus Rumänien in reguläre, nicht explizit internationale Seminare würde alle beteiligten Jugendlichen bereichern und die Seminare um neue Perspektiven erweitern. Außerdem würden internationaler Austausch und ein „gelebtes Europa“ zur Selbstverständlichkeit.

Der internationale Austausch hat in Verbindung mit den Aktivitäten des Gutenberg-Vereins den Begleit­effekt, dass bei den Jugendlichen eine Begeisterung für politische Bildung geweckt wurde. Das vorhandene Interesse an der deutschen Sprache, am deutschen Bildungssystem und der Wirtschaft wird vom Verein aufgegriffen und genutzt, die Jugendlichen für gesellschaftliche Änderungsprozesse zu motivieren und sie politisch zu bilden.


Ein Motivationskick, der nicht verhallte



Da der Verein die Relevanz des internationalen Austauschs erkannt hat, beteiligt er sich an dem internationalen Hospitationsprogramm des djo – Deutsche Jugend in Europa e. V. und tritt so in den Austausch mit Ehrenamtlichen und Fachkräften der Jugendarbeit in Deutschland. Die Fachkräfte aus Deutschland sind während ihres Aufenthalts Mitwirkende und werden nicht als ausländische Berater*innen gesehen – ein Beleg dafür, dass Austausch auf Augenhöhe möglich ist und Deutschland stark von der Innovationskraft Südosteuropas profitieren kann. Die Hospitant*innen können viel von den Zielen und Herangehensweisen der jungen Rumän*innen lernen. Durch die Hospitation habe ich neue Perspektiven gewonnen, die in meine zahlreichen Projekte im Themenfeld EU einfließen und so an die Teilnehmenden der Seminare weitergegeben werden. Seit dem Aufenthalt in Rumänien fühle ich mich in der Lage, in politische Diskussionen zur EU die Perspektive der süd-osteuropäischen Länder einzubringen, die Geschehnisse dort einzuordnen und zu erklären. Außerdem ließen mich die Gespräche über meine Hospitation lernen, wie weit verbreitet Vorurteile gegen Südosteuropa sind und wie ich ihnen begegnen kann. Fundierte Informationen und intensive Diskussionen über das Land, seine wirtschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderungen sowie seine Rolle in der EU in Gegenwart und Zukunft fehlen vielen Pädagog*in­nen. Pädagogische Fachkräfte sollten ausdrücklich zu Hospitationen im Ausland und zur Beschäftigung mit Ländern ermutigt werden, die noch nicht lange oder sogar (noch) gar nicht in der EU sind. Persönliche Erfahrungen verändern die Perspektiven in Bezug auf die EU, aber auch auf das Lernen, denn die Fachkräfte sind bei Hospitationen vor Ort mehr Lernende als Lehrende, eine Rolle, die politische Bildner*innen nie verlieren sollten.

Politische Bildung und die Frage der Finanzierung
Die Sommerschule des Gutenberg-Vereins wurde hauptsächlich durch Sach- und Geldspenden finanziert. Die Universität stellte die Räumlichkeiten, die Gelder für Büromaterialien, Verpflegung, Fahrtkosten usw. wurden von großen, insbesondere deutschsprachigen Unternehmen eingeworben. Dieses Sponsoring ermöglichte den Jugendlichen eine große finanzielle Freiheit, schlug sich aber auch in viel Werbung auf Bannern, T-Shirts und in Social-Media-Posts nieder. Eine solche vorbehaltlose Zusammenarbeit mit Konzernen und Wirtschaftsunternehmen hätte ich in einem Land, in dem Korruption ein großes Thema ist, nicht erwartet. Bei meinem ersten Treffen mit dem Planungsteam, bei der Eröffnungs- und bei der Abschlussfeier – immer wieder sprachen die Jugendlichen darüber, dass die Korruption das Hauptproblem des Landes und nur durch politische Bildung und zivilgesellschaftliches Engagement zu bekämpfen sei. Dass dies aber nicht zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Wirtschaft führt, liegt daran, dass die Politik und nicht die Wirtschaft dafür verantwortlich gemacht wird. Politiker*innen gelten als korrupt und rückwärtsgewandt, Unterneh­mer*innen als fortschrittlich und lösungsorientiert. Dementsprechend vermeiden die Jugendlichen die Nähe zur Politik, beispielsweise Fotos mit Politi­ker*innen, und suchen die Nähe zu innovativen und Talente fördernden Unternehmen.


Ausbildung zu „Chancemakern“



Die Frage, wie non-formale Bildung finanziert werden sollte, erweist sich vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen als sehr wichtig. Zu diskutieren ist auch, inwieweit und bis zu welchem Ausmaß Bildung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit Korruption, wie von den Rumänen erhofft, verringern kann bzw. inwieweit der starke Glaube an die Macht von Bildung eine Illusion ist.

Fazit
Insgesamt hat die Erfahrung in Rumänien meine Überzeugung verstärkt, dass politische Bildung und internationale Begegnung junge Menschen nachhaltig prägen und enorme Kräfte freisetzen sowie den Willen zur Veränderung und den Glauben an eine gestaltbare Zukunft unterstützen. Beeindruckt hat mich der Umgang mit Knappheit und schwierigen politischen Verhältnissen auf der einen Seite und die Nutzung vieler persönlicher und gemeinschaftlicher Potenziale auf der anderen. Diese Eindrücke motivierten mich zu vielen Projekte der politischen Jugendbildung, zeigten mir neue Zugänge, Methoden und Themen und stießen Reflexionen zur Wirksamkeit der politischen Bildung an. 


Links
  • Demokratieindex 2019: https://www.eiu.com/public/topical_report.aspx?campaignid=democracyindex2019
  • Gutenberg e. V. Sommerschule: https://gutenberg.ro/de/projekte/sommerschule-2019/
  • Peer-to-peer-education: https://www.degede.de/blog/abc/peer-education/
  • https://www.medienkompetenzportal-nrw.de/handlungsfelder/peer-to-peer-projekte.html


Zitation:
Rohde, Johanna (2021). Machen statt warten. Junge Rumän*innen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Mitbestimmung, in: Journal für politische Bildung 1/2021, 68-71, DOI https://doi.org/10.46499/1669.1814.

Die Autorin

Johanna Rohde ist Historikerin und arbeitet als Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugend­bildung an der Evangelischen Landjugendakademie Altenkirchen. Im Jahr 2018 verbrachte sie im Rahmen des Internationalen Hospitationsprogramms der Deutschen Jugend in Europa (djo) mehrere Wochen in Rumänien.

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