„Liebe Teilnehmende, liebe Gefährderinnen und Gefährder!“

Der Präventionsgedanke begleitet seit jeher die Vorstellung von politischer Bildungsarbeit. Politische Bildung sollte nicht nur Mündigkeit, Urteils- und Handlungsfähigkeit fördern, sondern neben dem Schaffen von Zugängen zum und Teilhabe am politischen System auch allgemein präventiv gegen antidemokratische, die Menschenrechte missachtende politische Einstellungen und Verhaltensweisen wirken. Seit geraumer Zeit hat der Begriff der Extremismusprävention Verbreitung gefunden. Was aber ist damit gemeint? Wir gehen den Bedeutungsgehalten der Konzepte Prävention und Extremismus nach und diskutieren deren Implikationen für die politische Bildung.


Auch wenn der Begriff „Prävention“ im Sinne „vorbeugender Maßnahmen“ auf unterschiedliche Bereiche bezogen wird, bleibt die stärkste Assoziation die Medizin. Ein Transfer auf gesellschaftspolitische Verhältnisse ist per se mit Vorsicht zu gebrauchen. Politische Einstellungen, Konzepte und Akteure sind keine Krankheiten oder Krankheitserreger. Jegliche Analogie steht in der Gefahr, demokratietheoretisch und menschenrechtlich inakzeptabel zu werden. Im Alltagsdiskurs ist der Präventionsgedanke von fast unschlagbarer Überzeugungskraft: „Vorsorgen ist besser als heilen“.

„Wenn man allerdings Prävention als eine Variante professionellen Handelns begreift, sind damit unweigerlich eine Reihe von fachlichen Herausforderungen, Begründungspflichten und Reflexionsanforderungen verbunden, die sich aus der besonderen Handlungslogik dieses Typs pädagogischen Denkens und Handelns ergeben“, so Christian Lüders im Handbuch Kinder- und Jugendhilfe (2016: 521). Prävention wird (nicht nur) im pädagogischen Kontext unterteilt in:

  1. Primäre Prävention als allgemeine Verhinderung von Problemlagen: Prävention richtet sich an alle.
  2. Sekundäre Prävention richtet sich gezielt an Betroffene. Diese müssen kategorisiert werden.
  3. Tertiäre Prävention bezieht sich auf diejenigen, die von einer Problemlage betroffen sind. Es geht um Resozialisation.

Primäre Prävention im Kontext von politischer Bildung läuft Gefahr, ein generell positiv gedeutetes Verständnis von offener Demokratie und Individuum zu unterlaufen, wie es die politische Theorie und Menschenrechte voraussetzen. Alle Individuen in ihrer Mündigkeit und Emanzipation in einer offenen Gesellschaft zu fördern, ist schlicht politische Bildung. Diese sieht in ihren Teilnehmenden nicht die zukünftigen Feinde der Demokratie. Die Verwendung des Präventionsbegriffs hat weitreichende Folgen für das Verständnis von politischer Bildung: Sie wird zur Verhaltensprävention. Mit der Fokussierung auf abweichende Einstellungen und Verhalten der Einzelnen kommt es zu einer Individualisierung. Einzelne werden dabei nicht mehr als Subjekt der eigenen Urteilsbildung und Handlungsfähigkeit, sondern als Objekt staatlicher Maßnahmen adressiert.

Tertiäre Prävention in Bezug auf (gesellschaftlich unerwünschte) politische Einstellungen und Handlungen ist keine politische Bildung. Es geht um „Exit-Programme“, psychologische und soziale Arbeit, Trauerarbeit. Es geht um die Abkehr von bisherigen Lebensbezügen und Gewissheiten, die aufgegeben werden sollen. Dies ist nur mit einer hohen individuellen Motivation erreichbar.

Sekundäre Prävention im Kontext von politischer Bildung unterliegt der Gefahr von Zuschreibungen. Bestimmten Einstellungen und Handlungen von vermeintlich zu identifizierenden Gruppen soll intervenierend entgegengewirkt werden. Damit ist sekundäre Prävention in aller Regel vergangenheitsorientiert, es soll etwas schon Bekanntes verhindert bzw. vermieden werden.


Im Licht einer sich plurali­sierenden Gesellschaft ist „Präventionismus“ unzeitgemäß



Das mag in der Logik der Sicherheitsbehörden plausibel sein, bezogen auf Pädagogik wird es problematisch. Das Individuum sowie gesellschaftliche Entstehungsprozesse und -strukturen geraten aus dem Blick. Lüders betont, dass in der Präventionsdebatte das Unerwünschte meist schlicht vorausgesetzt wird: „Präventives Handeln mutiert so zu einem Instrument, in dessen Kontext nicht mehr reflektiert werden kann, was eigentlich das Problem ist, wie es gesellschaftlich konstituiert wird und welche Rolle präventives Handeln in diesem Zusammenhang spielt“ (2016: 522).

Der Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck fasst die pädagogischen Implikationen des Konzepts prägnant wie folgt zusammen: „Unmittelbar fällt der defensive und auch konservierende Charakter der Präventionsperspektive ins Auge: Prävention hat wenig mit Daseinsfreude, Kreativität und konstruktiver Gestaltung des Lebens zu tun, aus ihr spricht ein ängstliches Interesse an Sicherheit, bloßer Gesundheit, Kosteneffizienz und Nachhaltigkeit“ (2014: 186). Politische Bildung ist demgegenüber auf Zukunft gerichtet, nimmt die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse in den Blick, fragt nach kollektiven Handlungsbezügen, (politischen) Entscheidungsmöglichkeiten, Interdependenzen zwischen Problemlagen und allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, nach Macht, Herrschaft, Interessen und Konflikten, die als Chancen für gesellschaftliche Entwicklung begriffen werden. Im Licht einer sich pluralisierenden Gesellschaft mit vielfältigen individuellen Lebensentwürfen ist der „Präventionismus“, von dem Kohlstruck spricht, unzeitgemäß.

Die Dynamik der Ausbreitung des Präventionsgedankens auf immer neue Handlungsfelder und Fragestellungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten ist, liegt in seiner eigenen Logik begründet. „Indem Prävention, um überhaupt gezielt intervenieren zu können, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit herauslöst und Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Phänomenen und künftigen Ereignissen oder Zuständen postuliert, konstruiert sie ihr eigenes Aktionsfeld. Und da es nichts gibt, was nicht als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte, kann alles zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen werden“, analysiert Ulrich Bröckling in seinem Aufsatz zur Soziologie der Prävention (2008: 39). So kommt es, dass sich der Präventionsgedanke auch in fataler Weise gut mit dem Extremismus-Konzept verbinden lässt, zumal dessen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit daran anschlussfähig ist.

Extremismus
Parallel zur Prävention hat sich im Alltagsdiskurs auch das Konzept des Extremismus etabliert. Dabei hat der Extremismusbegriff eine doppelte Geschichte. In Bezug auf die Sicherheitspolitik wurde er Mitte der 1970er Jahre vom damaligen Bundesinnenminister Werner Maihofer eingeführt, um den Unterschied zwischen noch legitimer (legaler) und radikaler Kritik (Radikalismus) an den bestehenden Verhältnissen und extremistischen Verhaltensweisen, die bis hin zum Terrorismus reichen, deutlich zu machen.

Parallel entwickelte sich Anfang der 1970er-Jahre in der Politikwissenschaft der Rechtsextremismusbegriff. Der Modernisierungsprozess sollte im politischen Spektrum deutlich gemacht werden, was bis dahin – auch aufgrund personeller Kontinuitäten – als Neonazismus oder Neo-Faschismus beschrieben wurde. Dieses Konzept entwickelte sich weiter über die 1980er Jahre (Wahlerfolge der „Republikaner“) und die 1990er Jahre (gewaltsame Übergriffe). Richard Stöss, der wesentlich daran mitgewirkt hat, fasst in seiner Publikation zum „Rechtsextremismus im Wandel“ die Dimensionen des Rechtsextremismus in einer Grafik (siehe S. 35 unten) zusammen.

In den letzten 20 Jahren kam es zu einer verstärkten Übertragung des sicherheitspolitischen Begriffs des Extremismus auf das Feld der politischen Bildung. Dies muss überraschen, versteht sich doch die politische Bildung seit Ende der 1950er Jahre als Fachdidaktik der Sozialwissenschaft und orientiert sich dementsprechend an deren Wissenschaftsverständnis und Erkenntnissen. Für diese Entwicklung können drei Faktoren identifiziert werden:

  1. In den Politik- und Sozialwissenschaften selbst hat der Extremismusbegriff der Sicherheitsbehörden Eingang gefunden. Er wurde vor allem durch die Arbeit der Politologen Uwe Backes und Eckhard Jesse in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Darauf reagierte die Politikwissenschaft äußerst kontrovers, etwa hinsichtlich der Forderung nach Differenzierung in Bezug auf den Gegenstand, in Bezug auf die Zugangsweisen und in Bezug auf die Entwicklungsperspektiven.
  2. Durch einen Beschluss der Innenminister wurde im Jahr 2013 unter dem Label der Aufklärung den Verfassungsschutzbehörden selbst ein pädagogischer Auftrag erteilt – von der Profession der politischen Bildung weitgehend unbeachtet. Dieser Auftrag wird seitdem umfänglich wahrgenommen, wobei auf geheimdienstliche Erkenntnisse zurückgegriffen wird.
  3. Im Anschluss an den „Aufstand der Anständigen“ (1998) wurden diverse Bundesprogramme aufgelegt und ihre Laufzeit nach der Selbstaufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) bis heute verlängert. Diesen wird von politischer Seite immer auch der Auftrag der Extremismusprävention zugeschrieben. Das aktuelle Bundesprogramm „Demokratie leben!“ ist mit über 115 Millionen Euro ausgestattet.

Extremismusbegriff und politische Bildung
Die Etablierung eines Extremismusbegriffs sicherheitspolitischer Prägung führt zu verschiedenen Entwicklungen in der politischen Bildung, welche als Verschiebung hin zu einem „Sicherheitsdispositiv“ beschrieben werden können. Einige Thesen sollen schlaglichtartig zur Diskussion gestellt werden:

  • Die starke Betonung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und von deren Schutz als Grundlage politischer Bildungsarbeit drohen zu einem verkürzten und statischen Verständnis von Demokratie und Politik als staatlicher Ordnung zu führen. Die Dynamik der Veränderung eben dieser Ordnung in den letzten 70 Jahren und ihre Möglichkeit zum Wandel für die Zukunft wird unzureichend artikuliert.
  • Ebenso gerät aus dem Blick, dass nicht nur an den „Rändern“ antidemokratische und antimenschenrechtliche Einstellungen verbreitet sind, wie Studien seit fast 20 Jahren regelmäßig zeigen (z. B. die sog. „Mitte“-Studien).
  • Die Einführung einer Selbstverpflichtung der Träger politischer Bildung zur Verfassungstreue (Extremismusklausel) durch die damalige Bundesjugendministerin Kristina Schröder führte noch zu einem empörten Aufschrei. 2017 dagegen war der Protest gegen das eher zufällig bekannt gewordene Rundschreiben des Bundesinnenministeriums mit der Forderung an alle Bundesbehörden eher verhalten, alle Zuwendungsempfänger danach zu überprüfen, ob „verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse über Organisationen, Personen und Veranstaltungen“ vorliegen.
  • Ausgeblendet wird die spezifische Sichtweise der Sicherheitsbehörden auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Stärker thematisiert werden müsste auch die fehlende Überprüfbarkeit sicherheitspolitischer Erkenntnisse nach wissenschaftlichen Standards.

Vor diesem Hintergrund stellen sich u. a. zwei Fragen: Hat sich das Feld der politischen Bildung inzwischen an die zugrundeliegende Logik der „Versicherheitlichung“ gewöhnt? Haben sich ihr Selbstverständnis und ihre Praxis schon entsprechend angepasst?

Fazit
Das sicherheitspolitische Konzept der Extremismusprävention, wie es sich aus den Betrachtungen der beiden Begriffe ergibt, ist für die politische Bildung ungeeignet, um auf essentialisierende, autoritäre, fundamentalistische, identitäre Politikverständnisse zu reagieren. Es ist den Individuen gegenüber nicht offen und dynamisch-subjektorientiert, sondern kategorisiert nach fragwürdigen Zuschreibungen und wirkt statisch systemzentriert. Auf fatale Weise ist das Konzept der Extremismusprävention für autoritäre und fundamentalistische Politikangebote wie folgt anschlussfähig:

  1. Überbetonung des Ordnungsaspekts von Politik gegenüber deren Prozesshaftigkeit und Offenheit.
  2. Fokussierung des Sicherheitsaspekts statt der Gestaltungsaufgabe.
  3. Adressierung von Jugendlichen als potenzielle Gefährder/-innen anstelle der Einladung zur politischen Teilhabe.

In diesen Zusammenhängen wird exakt den Umständen Vorschub geleistet, die eigentlich bekämpft werden sollen. Das Feld der politischen Bildung muss diese Verstrickungen kritisch diskutieren; es geht um ihre Souveränität, um ihr Selbstverständnis – auch als gesellschaftspolitischer Akteur.

Die Extremismusdoktrin führt zu fatalen „Fehlkonzepten“ der politischen Bildung. Beispielsweise schreiben die Autoren in einer aktuellen Selbstdarstellung des Extremismus-Konzepts einleitend: „Gerade die politische Bildung ist innerhalb des demokratischen Spektrums zu politischer Neutralität verpflichtet – gegenüber den Feinden der Demokratie gilt es dagegen, klar Stellung zu beziehen“ (Mannewitz u. a. 2018: 6). Politische Bildung ist allerdings nie „neutral“, ihre Grundlage ist ein plurales Selbstverständnis, welches statt Neutralität vorzugaukeln dazu auffordert, eigene Werthaltungen offenzulegen. Stellung ist also nicht nur gegenüber denen zu beziehen, die als „Feinde der Demokratie“ markiert werden, sondern immer. Demokratische Politik beruht eben gerade nicht auf einer harmonischen Neutralität der Demokrat/-innen, sondern auf der politischen Kontroverse. Diese mit demokratischen Mitteln und unter Anerkennung von Vielfalt auszutragen, soll durch politische Bildung vermittelt werden.


Politische Bildung wird selbst zum Kampfplatz um ­politische Deutungshoheit



Die Forderung nach Neutralität in der politischen Bildung – initiiert von autoritären Akteuren der sogenannten Neuen Rechten – zeigt, dass politische Bildung selbst zum Kampfplatz wird, wenn es um die Deutungshoheit von politischen Problembeschreibungen geht. Sowohl die vermeintliche Neutralitätsverpflichtung von Lehrkräften als auch die „Feindmarkierung“ im Feld der zivilgesellschaftlichen Akteure schüren eine Atmosphäre der Angst. Die Profession steht angesichts dieser Angriffe vor der Aufgabe, gemeinsam mit Universitäten und Zentralen für politische Bildung Handlungsstrategien zu entwickeln, um politischen Bildner/-innen in Schule und im außerschulischen Bereich den Rücken zu stärken.

Im medizinischen Kontext kennt Prävention auch die quartäre Prävention, die Vermeidung von überflüssigen und überdimensionierten Maßnahmen. Vielleicht sollte dies auch die politische Bildung in Bezug auf den um sich greifenden Diskurs zur Extremismusprävention berücksichtigen und ihre Ressourcen für das verwenden, was notwendig ist: die Förderung der politischen Teilhabe.

Literatur
Bröckling, Ulrich (2008): Vorbeugen ist besser ... Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisiation, Heft 1, S. 38 – 48.

Kohlstruck, Michael (2014): Nachhaltige Prävention von Rechtsextremismus bei Jugendlichen in Schule und Jugendhilfe. In: Schubarth, Wilfried (Hg.): Nachhaltige Prävention von Kriminalität, Gewalt und Rechtsextremismus. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Potsdam, S. 183 – 199.

Lüders, Christian (2016): Prävention. In: Schröer, Wolfgang/Struck, Norbert/Wolf, Mechthild (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim u. a., S. 512 – 537.

Mannewitz, Tom/Ruch, Hermann/Thieme, Tom/Winkelmann, Thorsten: Was ist politischer Extremismus? Grundlagen, Erscheinungsformen, Interventionsansätze. Frankfurt/M. 2018.

Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel. Berlin.

Zentralen der politischen Bildung (2018): Diskussionspapier der Zentralen der politischen Bildung zu den Planungen der Bundesregierung zur Ausweitung des Programms „Demokratie leben!“, zur Etablierung eines „Nationalen Präventionsprogramms gegen islamistischen Extremismus (NPP) und zur Schaffung eines Demokratiefördergesetzes. In: Außerschulische Bildung, Heft 2, S. 84 – 85.

Zitation:
Gill, Thomas & Achour, Sabine (2019). „Liebe Teilnehmende, liebe Gefährderinnen und Gefährder!“ Extremismusprävention als politische Bildung?, in: Journal für politische Bildung 2/2019, 32-37.

Die Autor*innen

Thomas Gill ist Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung.

Sabine Achour ist Professorin für Politikdidaktik und politische Bildung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

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