Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland

In Deutschland leben ca. eine Million Schwarze, afrikanische und afrodiaspori­sche Menschen. Seit Jahrhunderten sind sie Teil der deutschen Geschichte und in der deutschen Gesellschaft präsent. Doch es gibt kaum verlässliche Daten dazu, wie groß die Gesamtzahl dieser Gruppe in Deutschland wirklich ist. Um Lebensreali­täten, Erfahrungen und Einstellungen dieser Bevölkerungsgruppe in ihrer Vielfalt und Komplexität sichtbar zu machen, haben Each One Teach One e. V. (EOTO) und Citizen for Europe (CFE), unterstützt vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) und der Alice Salomon Hochschule, Berlin, ein Forschungsprojekt durchgeführt und dessen Ergebnisse als Afrozensus veröffentlicht. EOTO ist ein Schwarzes community-basiertes Bildungs- und Empowermentprojekt in Berlin, CFE ist eine zivilgesellschaftliche Organisation und gemeinnütziges Sozialunternehmen, ebenfalls in Berlin. Der Afrozensus ist ein einmaliges von Schwarzen Selbstorganisationen durchgeführtes Projekt, das einen weiteren Schritt einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit Schwarzen Lebenswelten und Anti-Schwarzem-Rassismus darstellen soll, wie die Autor*innen schreiben.

Begründet wird dieses Vorhaben u. a. damit, dass Daten zu dieser Bevölkerungsgruppe bislang in Verbindung mit der Analysekategorie Migrationshintergrund und hinter dem Begriff eines allgemeinen Rassismus weitgehend unsichtbar gemacht würden und damit „spezifische Erfahrungen, Diskriminierungsdynamiken und Ausschlussmechanismen innerhalb der deutschen Gesellschaft“ (S. 24) nicht analytisch durchdrungen und anerkannt würden.

Die Studie 
Der Afrozensus basiert auf der Auswertung einer deutschlandweiten Online-Befragung mit einem standardisierten Fragebogen, an der über 6.000 Menschen teilgenommen haben. Die Befragung wurde von Juli bis September 2020 durchgeführt, also unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Für den qualitativen Teil der Studie wurden 34 Menschen der Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Bevölkerung in verschiedenen Fokusgruppen interviewt. Die Autor*innen hatten sich aufgrund der unsicheren Datenlage dafür entschieden, das Sample der Online-Befragung auf der Grundlage der Selbstidentifikation der Teilnehmenden über eine Registrierung auf der Website des Projekts zu bilden, andere Verfahren einer Stichprobenbildung erschienen aufgrund der defizitären Datenlage nicht geeignet. An der Studie teilgenommen haben Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen, die familiäre Beziehungen zu Afrika haben, weil sie selbst oder eine*r ihrer Vorfahren – egal in welcher Generation – Afrika freiwillig oder unfreiwillig verlassen haben (vgl. S. 27). Zwar kann der Afrozensus insgesamt betrachtet keine Repräsentativität beanspruchen, doch die Autor*innen sind der Überzeugung, dass es mit dem gewählten Verfahren möglich war, „ein komplexeres Bild Schwarzer Lebensrealitäten in all ihren Facetten zu untersuchen und abzubilden“ (S. 58). 

Der Afrozensus verfolgt, wie die Autor*innen schreiben, zwei Ziele. Zum einen will er einen Einblick in Mechanismen und Wirklichkeit von Diskriminierung, Ausschlüssen und Anti-Schwarzem-Rassismus geben und zum anderen Grundlagen für Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Solidarität schaffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Schwarze Lebensrealitäten vielfältig und komplex sowie von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt, jedoch auch durch geteilte Erfahrungen konstituiert sind. Um die Komplexität dieser Lebenswirklichkeiten genauer zu erfassen, legen sie das Konzept von Intersektionalität als analytisches Instrument zugrunde und verdeutlichen damit Überschneidungen der Mechanismen von Diskriminierung.

Anti-Schwarzer-Rassismus und Diskriminierung 
Für das Konzept der Studie ist weiterhin der Begriff des Anti-Schwarzen-Rassismus zentral. Die Autor*innen definieren ihn als eine spezifische Form des Rassismus, die in Europa und Deutschland seit der Zeit der Versklavung Tradition hat. Es handele „sich um eine spezifische Form der Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassistischen Diskriminierung von Schwarzen Menschen afrikanischer Herkunft“ (S. 39). Er sei „nicht auf Diskriminierung in Bezug auf die sogenannte Hautfarbe reduzierbar, da spezifische Dynamiken bei Anti-Schwarzer Diskriminierung existieren, und diese von Menschen afrikanischer Herkunft mit unterschiedlichen ‚Hauttönen‘ erlebt werden“ (S. 39/40). Denn er beschreibe nicht die Eigenschaften Schwarzer Menschen, sondern es handele sich dabei um Projektionen, die zur Durchsetzung und Rechtfertigung Weißer Vorherrschaft geschaffen wurden. Das Verständnis von Anti-Schwarzen-Rassismus als einer spezifischen Form personaler und struktureller Diskriminierung sei jedoch nicht als Entsolidarisierung oder Hierarchisierung gegenüber anderen von Rassismus betroffenen Gruppen zu verstehen. 

In der Studie werden Diskriminierungserfahrungen in 14 Lebensbereichen untersucht. Über 90 % der Befragten schätzt z. B. ein, dass es auf dem Wohnungsmarkt sehr häufig bzw. oft zu Diskriminierung kommt. In Hinblick auf Begegnungen mit Sicherheitspersonal beträgt die entsprechende Quote ca. 87 % und bezogen auf die Polizei ca. 85 %. Die geringsten Quoten betreffen den Bereich Kunst und Kultur mit immer noch 39 % und das Privatleben mit 49 % (vgl. Abb. 20, S. 90). Befragt nach der Einschätzung der Verbreitung von Anti-Schwarzen-Rassismus äußern 46,3 %, er sei sehr verbreitet, und 47,8 %, er sei ziemlich verbreitet, also sind nahezu 95 % der Befragten der Auffassung, dass sie damit konfrontiert sind oder sein werden. Für das eigene Erleben bedeutet das, dass 16 % der Befragten sehr häufig, 26,9 % oft und 36,3 % häufig davon betroffen sind (vgl. Abb. 65 und 67, S. 207 und 209). Zudem sind knapp 60 % der Befragten der Überzeugung, dass Anti-Schwarzen-Rassismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. 

In diesem Kontext ist auch von Interesse, welchen Organisationen und Institutionen die Befragten vertrauen. Eine nähere Betrachtung der Ergebnisse zeigt, dass die Werte in der Kategorie „voll und ganz“ doch sehr bescheiden ausfallen. Wenig überraschend ist, das 18,6 % Migrant*innen­selbstorganisationen voll und ganz vertrauen, doch auch NGOs erreichen nur einen Wert von 6,8 %. Erwartbar ist, dass die Befragten der „Ausländerbehörde“ (gar nicht: 30,9 %) und den „Polizei und Sicherheitsbehörden“ (28 %) am wenigsten vertrauen. Dass Kirchen einen Wert von 28,3 % (gar nicht) erreichen, mag dann doch etwas überraschen. Wird nach dem Vertrauen in Parteien und politische Institutionen gefragt, dann zeigt sich, dass 97,2 % der AfD gar nicht vertrauen, gefolgt von der CSU mit 65,4 %, der FPD mit 47,9 %, der CDU mit 39,6 % und der SPD mit 15,6 %. Die niedrigsten Werte und damit das höchste Vertrauen der Befragten genießen Die Linke und die Grünen. Relativ geringe Werte werden auch bezogen auf die Landesregierung, die Bundesregierung und den Bundestag genannt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass den demokratischen politischen Institutionen von den Befragten erhebliches Vertrauen entgegengebracht wird. Kritisiert wird jedoch, dass mit dem Rassismus in Institutionen und Organisationen nicht professionell umgegangen wird und Schwarze Menschen auf allen gesellschaftlichen Ebenen nicht angemessen repräsentiert sind.

Empfehlungen 
Der Afrozensus ermöglicht sehr aufschlussreiche und zum Nachdenken anregende Einblicke in die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen und seine Ergebnisse sollten auch in der politischen Bildung intensiv zur Kenntnis genommen werden. Die Autor*innen formulieren einige wichtige Handlungsempfehlungen. So fordern sie einen Afrozensus 2.0 und erheblich mehr Ressourcen zur Forschung über Schwarze Lebensrealitäten und zu Diskriminierung. Eine Expert*innenkommission Anti-Schwarzer-Rassismus soll eingerichtet, Aktionspläne erarbeitet und Beratungsstellen aufgebaut werden. Ebenso müsste das Engagement von Schwarzen Menschen und Initiativen des Empowerments finanziell angemessen gefördert werden. Weitere Empfehlungen betreffen Strategien und Programme zum Abbau von Diskriminierung in allen Lebensbereichen.

Alle Zitate im Text aus:
Aikins, Muna Annisa/Bremberger, Teresa/Aikins, Joshua Kwesi/Gyamerah, Daniel/Yıldırım-Caliman, Deniz (2021): Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland, Berlin. Online verfügbar unter: https://afrozensus.de/

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