Krisenbegriff und Krisenphänomene

Es scheint, als wären die Zeiten, in denen wir leben, besonders unruhig. Seit 2007 befindet sich die Welt in ständigem Krisenmodus. Doch was meint der Begriff „Krise“ eigentlich? Ein Blick in die Geschichte hilft, Krisendiagnostiken und ihre Kontexte besser zu verstehen. Wie wird über Krisen gesprochen und welche Phänomene werden als Zeichen einer Krise gewertet?


Die Rede von der Krise ist in den aktuellen Nachrichten allgegenwärtig. Es sind vor allem die Covid-19-Pandemie und ihre Wirkungen, die die Berichterstattung prägen, zeitweilig verdrängt von einer neuen Aufmerksamkeit für die Klimakrise infolge der Extremwetter des Jahres 2021. Doch bereits seit 2007 erregen vielfältige Ereignisse, die als Krisen tituliert wurden, die Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit. Wir scheinen in einer permanenten Krisenzeit zu leben, in der Flüchtlings- und Hunger-, Euro-, Finanz- und Wirtschaftskrisen einander ablösen oder überlagern.

Schauen wir zurück, dann sehen wir, dass die Krisenhaftigkeit die Wahrnehmung der Menschen seit dem 18. Jahrhundert prägt. Grund dafür sind, neben Umweltereignissen wie dem Erdbeben von Lissabon, die vielfältigen Veränderungen in der Lebenswelt infolge der ökonomischen, technologischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der damaligen Zeit. Im Zuge der Industrialisierung ordneten sich Verhältnisse neu. Die Veränderungen schienen den Menschen unvorhersehbar und eruptiv. Sie erschütterten ihre Vorstellung und ihr Verständnis – die zeitgenössische Bezeichnung der Veränderungen mit dem Revolutionsbegriff vermag dies zu illustrieren. Diese Veränderungen in Worte zu fassen und sie in einen Sinnzusammenhang zu stellen, fiel den Zeitgenossen ebenso schwer wie uns heute am „Ende der Zuversicht“ (Jarausch 2008); eine Formulierung, mit der Zeithistori­ker*in­nen eine Gesellschaft im erneuten Übergang seit den 1970er Jahren beschreiben. Die Krisendiagnostik verspricht hier Abhilfe. Sie hilft, die Offenheit einer Situation sprachlich zu erfassen und ordnen.

Doch wie geschieht das? Was zeichnet die Rede von der Krise aus? Was ist eine Krise und wodurch ist sie gekennzeichnet? Dieser Beitrag diskutiert diese Fragen in historischer Perspektive. Er stützt sich dabei wesentlich auf Überlegungen eines Aufsatzes zum Thema „Krisengeschichte(n)“, den die Verfasserin zusammen mit Carla Meyer und Gerrit Jasper Schenk veröffentlicht hat (vgl. Meyer/Patzel-Mattern/Schenk 2013: 9–32). Inhaltlich gliedert er sich in eine Bestimmung des Krisenbegriffs, gefolgt von einer kurzen Darstellung von Krisenphänomenen. Abschließend werden narrative Muster, mit denen Krisen beschrieben werden, vorgestellt.

Der Krisenbegriff
Der Begriff der Krise stammt aus dem Altgriechischen. Wörtlich übersetzt bezeichnet er eine Beurteilung oder Entscheidung. Bereits in der Antike erhielt er im Corpus Hippocraticum, einer Sammlung…

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Die Autorin

Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Dekanin der Philosophischen Fakultät der Univ. Heidelberg. Sie forscht und lehrt zur Geschichte von Krisen und Katastrophen, zur Geschichte der frühen Kindheit und elterlichen Sorge sowie zur Geschichte der Arbeit.

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