Krise und Erzählung

Krisen erweisen sich als Instrument, das gesellschaftliche Ordnung herstellt und organisiert. Damit kommt ihnen wirklichkeitsbildende Macht zu, die besondere Vorsicht im Umgang mit der Diagnose „Krise“ gebietet. Es lohnt sich, genau hinzusehen, welche Geschichten mit Hilfe der Krisenbehauptung erzählt werden. Keine davon ist per se schädlich, aber gerade dort, wo vermeintlich eigentliche Krisen benannt werden, müssen Interessen und Motive genau hinterfragt werden. 

„Never let a good crisis go to waste“ (Verschwende keine Krise) – dieses dem ehemaligen britischen Premierminister Winston Churchill zugeschriebene Zitat zeigt, dass die Rolle der „Krise“ in der Moderne ambivalent ist. Man könnte sogar von einem Zeitalter der Krise sprechen, denn die Erzählung der Moderne beruht auf der Wechselbeziehung von Krise und Krisenbewältigung. Es ist wichtig, gleich zu Beginn der Überlegungen zur historischen Rolle von Krise und Krisenerzählung deren narrative Funktion in den Vordergrund zu stellen: Krise ist nicht etwas Eigenständiges; vielmehr dient Krise dazu, Zusammenhänge zu ordnen und zu bewerten.

Der Begriff stammt aus der antiken Medizin und bezeichnete den Höhepunkt der Entwicklung eines Krankheitsverlaufs. Ohne dass der Ausgang bereits feststünde, benennt die Krise den Moment größter Verdichtung. Das gilt auch für die moderne Nutzung des Begriffs, die sich allerdings vom Moment zu einem längeren Zeitraum verschoben hat: „K. bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, poli­tischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung“ (Schubert/Klein 2018).


Was eine Krise (nicht) ist



Die Rolle der Krise ist ambivalent, weil sie zwar die Störung oder wenigstens massive Gefährdung eines gegebenen Systems (Wirtschaft, Körper, Umwelt) über einen längeren Zeitraum bezeichnet, aber – darin ist sie ein genuin modernes Konzept – auch als Gelegenheit für (positive) Veränderung, als potenzielle Ressource für Veränderung und Fortschritt gilt. Wenn also von Krise gesprochen wird, gilt es zu fragen, wer spricht, wovon gesprochen wird und welches Ziel die Rede von Krise verfolgt. Krise als Erzählung bzw. als Element von umfassenden Erzählungen zu verstehen, ist hier insofern notwendig, als damit zugleich störende und ordnende Funktionen des Konzepts in den Blick kommen. Nur so lässt sich nachvollziehen, warum und wie Krisen für verschiedene politische Zwecke instrumentalisiert werden können und warum Krisendiagnosen mit Vorsicht zu genießen sind.

Krise und Katastrophe – ein modernes Paar
Im Jahr 1755 bebte vor Lissabon die Erde und zerstörte beinahe die gesamte Stadt. Sie wurde zwar wiederaufgebaut, aber nichts war mehr wie vorher. Denn das Erdbeben löste eine Krise aus, die die politische Landschaft komplett veränderte. In der aristotelischen Poetik bezeichnet ‚Katastrophe‘ den letzten Teil eines Dramas, in dem der tragische Konflikt seine Lösung findet (vgl. Briese/Günter 2009: 155). Im Laufe der Zeit wurde Katastrophe zu einem Begriff für unerwartete Ereignisse mit großer Zerstörungskraft. Diese haben vor allem dann, wenn es sich um natürliche Phänomene – Fluten, Erdbeben, Vulkanausbrüche – handelt, das Potenzial, Ordnung in Frage zu stellen. Genau das passierte in Lissabon.

Bis zu diesem Erbeben galten solche Begebenheiten als Strafe Gottes. Gleiches galt im Übrigen für Pandemien, Brände und andere Großschadensereignisse. Damit waren sie in eine Ordnung integriert, die keiner weiteren Begründung bedurfte. Für „Lissabon 1755“ griff diese Ordnung aber nicht mehr. Zwar behaupteten die Kirchenväter weiterhin, es habe sich um eine göttliche Strafe gehandelt, aber im intellektuellen Europa des 18. Jahrhunderts reichte diese Erklärung nicht mehr aus. Nicht nur ließ sich durch wissenschaftliche Methoden und ingenieurstechnische Innovationen das Ereignis besser bewältigen als je zuvor, die Infragestellung der göttlichen Legitimation führte auch zur Infragestellung gesellschaftlicher Ordnung insgesamt (vgl. Walter 2010: 96; 2016).

Wenn man so will, entlädt sich die Krise, die das Erdbeben auslöst, in einer weiteren Erschütterung, der Französischen Revolution von 1789, die das Ende des Absolutismus in Europa einläutet und als Selbstbehauptung des Bürgertums gelesen werden kann. Der Historiker Reinhart Koselleck entwickelt in seiner Dissertation „Kritik und Krise“ (1959) die These, dass der Beginn der bürgerlichen Welt als Entstehung einer Krankheit, als „Pathogenese“, zu verstehen sei (vgl. Imbriano 2013: 41). Damit setzt er der optimistischen Perspektive auf die Krise als Chance eine konservative Lesart entgegen, die sie als Symptom einer Krankheit versteht und damit die Moderne als Verfallsgeschichte erzählt. In aller Kürze heißt das, die Art und Weise, in der „Krise“ zum Moment einer Erzählung wird, bestimmt ihre geschichtsphilosophische Deutung.

Mythos vs. Erklärung – Bewältigungsstrategien
Wo in vormoderner Zeit Mythos und Religion zur Bewältigung von Kontingenz dienen, erfüllen nun die Wissenschaften diese Funktion. Vorsorge und Versicherungen werden zu Prinzipien, die Zukunft denkbar machen, wenn auch als Katastrophe. Denn anstelle des apokalyptischen Glaubens an ein jüngstes Gericht, das rückwirkend alle den Menschen unbegreiflichen Phänomene als Plan Gottes enthüllen wird, bleibt in der Moderne nur die Vorstellung des eigenen Untergangs. Aus der Perspektive dieser katastrophischen Zukunft (vgl. Horn 2014) wird die Gegenwart zur ständigen Krise. Sie bietet zwar weiterhin Chancen, erfordert jedoch eine dynamische Bewältigungsarbeit, anders gesagt, ständiges Erzählen des eigenen Mythos. Mythos heißt hier jedoch keinesfalls, dass Geschichten erzählt werden, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Im Gegenteil, die Erzählung der Zukunft als Katastrophe stellt die Wirklichkeit erst her, in der sich die Menschen bewegen können. Die Krise ist ein unverzichtbares Element dieser Wirklichkeit, denn sie bildet das gegenwärtige Gegenstück der Zukunft als Katastrophe.

An einem Beispiel illustriert heißt das, dass die Investitionsfreudigkeit und der Wille, große Ressourcen aufzuwenden, um „die Wirtschaft zu retten“, die nach der sogenannten Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2012 sichtbar wurden (aber auch nach der Ölkrise 1979/80), sich aus der Angst vor einem zukünftigen Kollaps speisen. Die Krise besteht also nicht so sehr darin, dass sie gegenwärtig Probleme in akuten Lebenssituationen verursacht, sondern wird erst – so Eva Horn – in der „Reflexion im Futur II“ (2014: 11) als Krise erkennbar. Das bedeutet, man schaut nicht in die Zukunft, um zu sehen, was werden wird, sondern man schaut von einer imaginierten Zukunft aus in die eigene Gegenwart zurück, als sei sie bereits vergangen und fragt: „Was wird den Kollaps ausgelöst haben?“


Katastrophe und Krise als ­Offenbarung



An dieser Stelle wird deutlich, wie leicht diese Art der Bewältigungsstrategie über den Umweg der Zukunft im Futur II, der politischen Instrumentalisierung anheimfallen kann. Um beim Beispiel zu bleiben: Wenn die imaginierte Zukunft auf das herrschende Wirtschaftssystem festgelegt wird, indem sie sein Ende zur Katastrophe erklärt, müssen sich konsequenterweise alle Handlungen in der Gegenwart auf die Rettung dieses Systems beziehen. Die Vorstellung von Alternativen wird so tatsächlich unterdrückt. Somit kann die Erzählung, der Mythos von der Zukunft als Katastrophe, zum Instrument von Konservativismus werden.

Wenn allerdings der imaginierte Kollaps in der Gegenwart kaum eine Entsprechung findet, wird die Vorstellung eines Zusammenbruchs dieses Systems kaum Wirkung in der Gegenwart entfalten können. Wenn z. B. „Klima“ anders als „Wirtschaft“ nicht zu den Bedingungen einer funktionierenden Gegenwart gezählt wird, dann kann es auch keine „Klimakrise“ geben. Wer also beeinflussen oder bestimmen kann, welche zukünftigen Katastrophen als plausibel oder relevant gelten (siehe: Wirtschaft muss gerettet werden, bevor Klima wichtig wird), übt Macht über die Gegenwart aus.

Schuldfragen und Sündenböcke
Ähnlich wie die Katastrophe besitzt die Krise offenbarende Qualitäten. Die Katastrophe legt existierende Schwachstellen offen und lässt damit Rückschlüsse auf die Resilienz einer Gesellschaft zu. Resilienz, die systemische Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen, bemisst sich u. a. darin, welchen Druck ein System aushalten kann, bevor es zur Katastrophe kommt (z. B. hätte das 2011 havarierte Atomkraftwerk in Fukushima bei geringerer Erdbebenstärke einen Tsunami überstehen können). Resilienz als Störungs- oder Fehlertoleranz spielt auch für Krisen eine große Rolle, allerdings offenbaren sie vor allem, welche Systeme überhaupt krisenwürdig sind, also Handlungsbedarf generieren können. Die Beispiele „Klima“ und „Umwelt“ zeigen, dass sie nur als Krise überhaupt erst ins Bewusstsein rücken. Die Krisenbehauptung oder -diagnose soll hier den Blick darauf lenken, dass es sich überhaupt um störungsanfällige Systeme handelt, dass also Klima nicht unabhängig von menschlichen Aktivitäten funktioniert und Ökosysteme („Umwelt“) massiv unter den Auswirkungen der Konsumkultur leiden und damit umgekehrt auch die vermeintlich davon getrennte „Zivilisation“ gefährden. Damit wird jedoch nicht nur die Relevanz eines Systems betont, die Krise sorgt auch für massive Verunsicherung, denn sie verweist nicht nur auf die Zukunft als (mögliche) Katastrophe, sondern auch auf die Notwendigkeit einer umfassenden Verhaltensänderung.

Um der Verunsicherung und Zukunftsangst entgegenzuwirken oder um gegenwärtige Machtverhältnisse zu erhalten, ist die Reaktion auf eine Krise oft die Behauptung einer Gegen-Krise. Anstatt Handlungsempfehlungen zu folgen oder Entscheidungen zu treffen, die die in der Krise sich ankündigende Katastrophe verhindern könnten (bspw. eine Maske zu tragen, um die Verbreitung eines Virus einzudämmen, oder weniger zu fliegen, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu mindern), wird behauptet, die eigentliche Krise fände an anderer Stelle statt und alle Bemühungen müssten sich darauf beziehen. „Die Wirtschaft“ als unspezifischer Garant für Wohlstand muss hier oft herhalten, so dass Gesundheit und Überleben von Menschen und Nicht-Menschen gegen die Möglichkeit von Gewinnen ausgespielt werden. Oder es wird behauptet, es gäbe eigentlich keine Krise. Damit werde nur von einer eigentlichen Wahrheit abgelenkt.

Solche Verschwörungstheorien (vgl. Butter 2018) bzw. Verschwörungsmythen (vgl. Blume 2020) setzen an die Stelle der Lücke, die die drohende oder eingetretene Katastrophe öffnet, eine narrative Erklärung, die nicht in erster Linie Verantwortung erkundet, sondern Schuld zuweist. Denn wer Schuldige benennen kann – seien es superreiche Firmenchefs, Geheimbünde oder Mitglieder marginalisierter Gruppen –, muss sich nicht mehr mit der Unsicherheit herumschlagen, die die Krise offenlegt. Auch hier geht es dann um eine Verschiebung der Krisendiagnose hin zu einer vermeintlich eigentlichen Krise, die nicht für alle zu sehen ist. Damit wird Verantwortung abgegeben, indem Schuld zugewiesen wird – entweder denen, die nicht greifbar sind (Modell: Bill Gates) oder die marginalisiert werden. Die Erzählungen, die dann um „Krise“ entstehen, werden im schlimmsten Fall zu Instrumenten rassistischer und/oder antisemitischer Ideo­logien. Sie benennen Sündenböcke und erkaufen geschlossene Erklärungen um den Preis von gesellschaftlicher Offenheit und Toleranz.

Literatur
Blume, Michael (2020): Verschwörungsmythen – woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können. Ostfildern. 

Briese, Olaf/Günther, Timo (2009): Katastrophe. Ter­minologische Vergangenheit, Gegenwart und Zu­kunft. In: Archiv f. Begriffsgeschichte 51, S. 155–196.

Butter, Michael (2020): „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien. Berlin.

Horn, Eva (2014): Zukunft als Katastrophe. Frankfurt/M.

Imbriano, Gennaro (2013): „Krise“ und „Pathogenese“ in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt. In: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte, H. 1, S. 38–48.

Schmitz-Emans, Monika (2012): Literarische Echos auf Lissabon 1755. In: Nitzke, Solvejg/Schmitt, Mark (Hg.): Katastrophen. Konfrontationen mit dem Realen. Essen, S. 17– 44.

Schubert, Klaus/Klein, Martina (2018): Das Politik­lexikon. Bonn.

Walter, François (2016): Geißel Gottes oder Plage der Natur? Vom Umgang der Menschen mit Katastrophen. Stuttgart.

Walter, François (2010): Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart. 



Zitation:
Nitzke, Solvejg (2021). Krise und Erzählung. Geschichte(n), Bewältigungsstrategien und Feindbilder, in: Journal für politische Bildung 1/2021, 10-13, DOI https://doi.org/10.46499/1669.1803.

Die Autorin

Dr. Solvejg Nitzke ist wiss. Mitarbeiterin an der TU Dresden. An der Professur für Medienwissenschaften und Neuere deutsche Literaturwissenschaft erforscht sie ökologisches Erzählen und (proto-)ökologisches Wissen in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts.

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