Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen

Am 20. August 2018 führte die Trotzreaktion einer schwedischen Schülerin innerhalb kürzester Zeit zu weltweiter Bekanntheit und Nachahmung. Die damals 15-jährige Greta Thunberg hatte an diesem Tag in Stockholm die Schule geschwänzt und sich stattdessen mit einem selbstgefertigten Schild vor das Reichstagsgebäude gesetzt. „Skolstrejk för klimatet“ (Schulstreik fürs Klima) hatte sie auf das Schild geschrieben. In den folgenden Wochen boykottierte sie den Schulbesuch und kündigte danach unter dem Hashtag „Fridays for Future“ an, dies fortwährend freitags zu tun, solange die schwedische Regierung nicht die Grundsätze des Pariser Klimaabkommens erfülle. Greta Thunbergs hartnäckiger „Klimastreik“ fand seitdem – besonders unter Jugendlichen – zum Teil leidenschaftliche Zustimmung und motivierte sie in vielen Ländern zu ähnlichen Protestaktionen. Was als „Skolstrejk för klimatet“ begann, scheint sich nach und nach zu einer Neuen Sozialen Bewegung globalen Ausmaßes zu entwickeln.

Soziologisch betrachtet decken die Motive und Aktionsformen der Klima-Aktivisten auf den ersten Blick bereits weitgehend die Definitionskriterien einer Neuen Sozialen Bewegung ab: Es handelt sich bei ihnen um ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem […] von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (Rucht 2001: 323). Damit erfüllen sie laut Rucht die Funktion eines „aussagekräftigen Problemindika­tor(s)“ (ebd.: 326). Soziale Bewegungen unterscheiden sich von Parteien, Verbänden, Vereinen dadurch, dass sie weder über verbindliche formelle Organisationsstrukturen noch über feste Mitgliedschaftskriterien verfügen, sondern in Form von mehr oder weniger losen Netzwerken agieren. Sie sind „stärker in der Lebenswelt verhaftet, beanspruchen […] die Motive und Bedürfnisse ihrer Anhängerschaft direkt und unverfälscht, v. a. ohne die nicht immer uneigennützige Vertreterrolle von […] Funktionären zur Geltung zu bringen“ (ebd.: 324). Soziale Bewegungen sehen ihre Aufgabe und Funktion somit auch darin, mit alternativen und innovativen Problemlösungsvorschlägen als kritische Instanz und Gegenmacht gegenüber etablierten gesellschaftlichen und politischen Kräften aufzutreten. Rucht zufolge bilden sie damit ein „Lebenselixier einer partizipatorischen, ‚starken‘ oder ‚assoziativen‘ Demokratie“. Konservative Sichtweisen erkennen in den Konzepten und Aktionen sozialer Bewegungen dagegen eher einen „anomischen Spontaneismus“ oder „mythisch-chiliastischen Irrationalismus“ (Gerdes 2001: 455).


Infantilisierung von Politik



Eine genauere Beschäftigung mit den Protestierenden, ihren Motiven und Aktionsformen lässt jedoch Zweifel an der augenscheinlich eindeutigen Bestimmung von Fridays for Future als einer Neuen Sozialen Bewegung aufkommen. So legen Sommer u. a. (2019) in ihrem für das Institut für Protest- und Bewegungsforschung erstellten working paper zu Fridays for Future dar, dass die Protestbewegung formal gesehen durchaus die Mehrzahl der notwendigen Definitionsmerkmale einer sozialen Bewegung erfüllt: „ein informelles Netzwerk, gemeinsam geteilte Überzeugungen, Konfliktorientierung und die Nutzung verschiedener Protestformen“ sind fraglos erkennbar (ebd.: 39). Allein die relativ enge Fokussierung auf eine Änderung der Klimapolitik genügt nicht den Ansprüchen der Definition. Diese erfordert zudem ein Engagement für einen „grundlegenden sozialen Wandel“, der auch die Veränderung „gesellschaftlicher Machtkonstellationen und Verteilungsfragen“ (ebd.) einschließt. Fridays for Future ist dem Autorenteam zufolge daher eher als „eine politische Protestkampagne mit begrenzter sachlicher und zeitlicher Reichweite“ zu bezeichnen (ebd.: 39 f.). Inwieweit die noch junge Protestbewegung zu einer Ausweitung oder Radikalisierung ihrer Ziele, aber auch zur Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren und sozialen Bewegungen willens und in der Lage ist, wird sich in Zukunft zeigen.

Die Faszination des Unterkomplexen
Der mediale Hype sowie das Verhalten von Politiker/-innen im Umgang mit den Fridays for Future-Aktivist/-innen und ihrem Idol Greta Thunberg deckt ein aus unserer Sicht tieferliegendes Defizit auf: die Infantilisierung von Politik. So treten immer häufiger Kinder und Jugendliche in Talkshows als Propheten, Experten und kleine Politiker auf, die ihre vom Idealismus verklärten Weltrettungswahrheiten und -ambitionen verkünden. Dieses vom Medienwissenschaftler Norbert Bolz provokant als „Kitsch des politischen Infantilismus“ (2020: 16) etikettierte Phänomen verkennt die Komplexität und die Paradoxien moderner Gesellschaften. In den Szenarien der jugendlichen Klimaaktivisten erscheine das Bestehende fast ausschließlich „als katastrophischer Prozess, der nur eine Option offenlässt, nämlich die Notbremse zu ziehen“ (ebd.: 17). Dementsprechend warnte auch der Klimaforscher Hans von Storch in einem Spiegel-Interview vor Panik, Aktionismus und ökologischem Radikalpessimismus: „Früher war ein Sturm einfach ein Sturm, heute gilt er manchen als ein Vorbote des Weltuntergangs. Doch das ist eher ein psychologisches Phänomen, kein physikalisches“ (Storch 2019: 109). In seiner unterkomplexen Sehnsucht nach elementaren Gewissheiten und Orientierungen blendet der vom Schwarz-Weiß-Sehen bestimmte und sehr leidenschaftlich geführte Diskurs der Fridays for Future-Klimaaktivisten zum einen aber nicht nur kritische Stimmen aus der Wissenschaft aus. Zum anderen ignoriert der stark emotionsgeladene Zugang auch viele offene ethische und sozialpolitische Fragen, wie zum Beispiel: Haben zukünftige Generationen absolute Rechte? Wie viele Lasten muss die gegenwärtige Generation für das Wohl künftiger Generationen schultern? Kann man von Schwellenländern fordern, ihre Entwicklung zu verlangsamen, um Klimaschutz zu betreiben? (vgl. Gesang 2011: 9).

Auf der Suche nach einer abgesicherten Identität in einer komplexen Welt kanalisieren die Leitfigur Greta und die Fridays for Future-Aktivisten durch die Einfachheit ihrer Botschaften und Forderungen die Ängste vieler Menschen. Sie werden damit zur Projektionsfläche von handlungsleitenden Werten. Der fatale Fehler, dabei der Faszination des Unterkomplexen zu erliegen, ist aber weniger den jugendlichen Aktivisten und ihrem Idealismus zuzuschreiben als den Politiker/-innen und Massenmedien, die sich in der Öffentlichkeit an einem intellektuellen Unterbietungswettbewerb in symbolischer und emotionalisierter Politik beteiligen. Genau hier liegt die elementare Aufgabe und Verantwortung von politischer (Jugend-)Bildung. Sie muss die Lebenskomplexität und die Paradoxien moderner Gesellschaften vermitteln und die Infantilisierung von Politik durch die bewusste Herstellung von Zusammenhängen dekonstruieren. Denn „der aufgeklärte Mensch ist der diese Zusammenhänge begreifende Mensch, und das ist die Grundlage seiner Mündigkeit“ (Negt 2010: 211). So kann politische Bildung ihren Beitrag dazu leisten, in einer zukunftsentscheidenden Frage Orientierungswissen zu vermitteln.

Literatur
Bolz, Norbert (2020): Herrschaft der Kindsköpfe. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, Heft 2, S. 14 – 22.

Gerdes, Dirk (2001): Soziale Bewegungen/Neue soziale Bewegungen. In: Nohlen, Dieter (Hg.): Kleines Lexikon der Politik. München, S. 454 – 456.

Gesang, Bernward (2011): Klimaethik. Frankfurt/M.

Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen.

Rucht, Dieter (2001): Soziale Bewegungen als Signum demokratischer Bürgergesellschaft. In: Leggewie, Claus/Münch, Richard (Hg.): Politik im 21. Jahrhundert. Frankfurt/M., S. 321 – 336.

Sommer, Moritz u. a. (2019): Fridays for Future. Profil, Entstehung und perspektiven der Protestbewegung in Deutschland. ipb working paper series 2/2019.

Storch, Hans von (2019): „Früher war ein Sturm einfach ein Sturm“. Interview mit dem Klimaforscher Hans von Storch. In: Der Spiegel Nr. 43 vom 19.10. 2019, S. 108 – 109.


Zitation:
Korfkamp, Jens & Steuten, Ulrich (2020). Fridays for Future oder die Faszination des Unterkomplexen, in: Journal für politische Bildung 3/2020, 74-76.

Die Autoren

Dr. Jens Korfkamp, Politologe, ist Leiter der Verbandsvolkshochschule Rheinberg (Nordrhein-Westfalen).

Dr. Ulrich Steuten, Soziologe, ist Fachbereichsleiter für politische Bildung an der Volkshochschule der Stadt Moers.

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