Entgrenzungen – Deutsche Einheit – Demokratieförderung

In der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung wurden in den letzten drei Jahrzehnten etliche Debatten um Herausforderungen, praktische Ansätze und Förderpolitik geführt. Dieser Zeitraum wird von zwei offiziellen Dokumenten gerahmt: Nach einem Hearing am 8. Mai 1989 wurde mit Verzögerung, die auch durch die politischen Ereignisse um die Friedliche Revolution in der DDR und die Umbrüche in den staatssozialistischen Ländern bedingt war, im Jahr 1991 von der Bundesregierung ein Bericht zu Stand und Perspektiven politischer Bildung vorgelegt. 2020 schließlich wurde der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zur Förderung demokratischer Bildung veröffentlicht.


Es war schon eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass sich vom 10.–12. November 1989 im Berliner Reichstag die Akteur*innen der politischen Bildung aus der alten Bundesrepublik zu einer Konferenz „Vierzig Jahre politische Bildung in der Demokratie“ trafen. Am Vorabend war in der DDR die Öffnung der Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten verkündet worden. Während sich draußen Weltgeschichte ereignete und es in der Stadt zu freudigen und überraschenden Begegnungen kam, wurden drinnen 40 Jahre politische Bildung in der Demokratie bilanziert. Ansprüche und Grenzen politischer Bildung wurden reflektiert und u. a. dafür plädiert, dass politische Bildung sich auf wenige Kernaufgaben konzentrieren solle (vgl. bpb 1990).

Diese These einer Konzentration auf wesentliche Aufgaben muss wohl als eine Antwort auf die beim Hearing vom 8. Mai 1989 erkennbare Tendenz gelesen werden, dass politische Bildung mit immer mehr Herausforderungen konfrontiert war und sich mit einem breiten Spektrum von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen und Zukunftsfragen beschäftigen sollte, wie in dem 1991 erschienenen Bericht zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung gezeigt wird (BT-Drucksache 12/1773). Explizit genannt werden ökologische Fragen, technologische Entwicklungen, der europäische Binnenmarkt, die Integration der Aussiedler*innen, das Thema Fremdenfeindlichkeit sowie die Gleichstellung von Frauen/Mädchen. Etwa ein Jahr nach der Vereinigung nehmen die Aspekte des Zusammenwachsens im vereinten Deutschland im Bericht den größten Raum ein. Die politische Bildung solle sich mit dem „Zusammenbruch des kommunistischen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssys­tems in der ehemaligen DDR“ beschäftigen, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisten und die sich aus der industriellen Zivilisation ergebenden Fragen aufgreifen. Als besonders wichtig wurde in diesem Kontext die Vermittlung von Grundwerten der Demokratie und Kompetenzen zur Gestaltung demokratischer Politik erachtet. Nachdrücklich empfohlen wurde die Durchführung von deutsch-deutschen Begegnungen, für die zusätzliche öffentliche Mittel bereitgestellt wurden. Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass sich politische Bildung eine gewisse Zurückhaltung auferlegen müsse, um in den neuen Bundesländern nicht in Gefahr zu geraten, als altvertraute staatliche Indoktrination beargwöhnt zu werden. 

Aufbau politischer (Jugend-)Bildung in den östlichen Bundesländern 
In den Bericht sind erste Erfahrungen beim Aufbau einer außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in den ostdeutschen Bundesländern eingeflossen. Wie in anderen Politikfeldern der deutschen Vereinigung waren auch hier Fragen nach dem Prozedere des Aufbaus zu stellen. Erfolgt eine Ausweitung der Tätigkeit westdeutscher Träger, gibt es Chancen zur Entwicklung eigener Trägerstrukturen oder erfolgte eine Form der „Übernahme“? Diese Fragen sind je nach Trägerstrukturen unterschiedlich zu beantworten. Der Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben konnte z. B. auf ähnliche Strukturen wie im Westen zurückgreifen, nachdem die Volkshochschulen und Gewerkschaften in den östlichen Bundesländern einen deutlichen Veränderungsprozess vollzogen hatten und sich zur Gründung länderbezogener Verbände entschlossen. Die Evangelischen Akademien intensivierten vorhandene Kontakte mit Initiativen oder zur Akademiearbeit in der ehemaligen DDR. Initiativen und Akteure, die aus der Bürgerbewegung hervorgingen, suchten den Kontakt und die Unterstützung durch den Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten. 


1990er Jahre: Zwischen Politikverdrossenheit und Sozialabbau 



Ein wirkungsvoller Beitrag zum Aufbau einer Infrastruktur der politischen Jugendbildung wurde durch die Erhöhung der Mittel des Kinder- und Jugendplans des Bundes (KJP) sowie die Einrichtung des „Programms zum Auf- und Ausbau von Trägern der freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern“ (AFT) geleistet. Für mehrere Jahre konnten die Verbände Koordinator*innen zur Beratung neuer Einrichtungen anstellen; Fachtagungen, ein bundesweiter Erfahrungsaustausch und Vernetzungstreffen zur Qualifizierung konnten durchgeführt werden. Herausfordernd war, formal qualifiziertes Personal für diese Tätigkeiten zu finden. Vielfach konnten neue Mitarbeiter*innen nur im Zuge einer Nachqualifikation eingestellt werden. Ein großer Teil des Personals der Kinder- und Jugendbildung wurde jedoch unter den Bedingungen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zeitlich befristet beschäftigt (vgl. Arbeitsausschuss für politische Bildung 1996). 

Eine der zentralen Debatten der politischen Jugendbildung Anfang der 1990er Jahre befasste sich mit der Zunahme aggressiver, gewalttätiger, zumeist fremdenfeindlicher Ausschreitungen von jungen Menschen insbesondere in den neuen Bundesländern. Auch wenn solche Entwicklungen nicht neu waren, traten sie in dieser Zeit massiver in Erscheinung. Erinnert sei nur an die Anschläge in Hoyerswerda (1991), Rostock (1992), Mölln (1992), Solingen (1993) oder Lübeck (1996). Sozialwissenschaftlich erklärt wurde dieses Verhalten durch Erfahrungen der Desintegration, von Arbeitslosigkeit, sozialer Marginalisierung und der Auflösung sozialer Milieus. Diese Erfahrungen führten zu Ohnmacht und Vereinzelung, mündeten in Ungleichheitsvorstellungen und zunehmend in rassistischen Einstellungen, und eine Verarbeitung erfolge zum Teil in Gewalthandlungen. Für die ostdeutschen Bundesländer sollte mit dem Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) gegengesteuert werden. Im Zeitraum von 1992 bis 1996 wurden Projekte realisiert, die sich unmittelbar an gewaltbereite Jugendliche richteten, außerdem wurden präventive Projekte z. B. in Jugendclubs und Sportvereinen gefördert. Die Arbeit wurde schnell als „Glatzenpflege auf Staatskosten“ kritisiert, weil die hinter den Gewaltphänomenen stehenden rechtsextremen Einstellungen in Konzept und Praxis vernachlässigt worden seien (vgl. BMFSFJ 1994). 

Politikverdrossenheit und Krise politischer Bildung 
Die Themen Aggression, Gewalt und Rechtsextremismus wurden in Politik und Öffentlichkeit mit enormer Aufmerksamkeit begleitet. Aber die politische Bildung war thematisch wesentlich breiter aufgestellt. Themen der Ökologie, der Zukunft der Arbeit, der multikulturellen Gesellschaft, der Informationsgesellschaft, der geschlechterbezogenen Bildung, der sozialen Gerechtigkeit, der Entwicklungen in Europa, die Konflikte auf dem Balkan, globale ökonomische Fragen oder die Rolle der Parteien und des politischen Engagements in der Demokratie standen auf der Agenda. Zeitgeschichtlich machen die „Worte des Jahres“ 1992 bzw. 1993, „Politikverdrossenheit“ und „Sozialabbau“, deutlich, mit welchen gesellschaftlichen Herausforderungen politische Bildung etwa im Blick auf Ziele wie Partizipation und Gerechtigkeit konfrontiert war. Veränderte weltpolitische Konstellationen beschleunigten Globalisierungsprozesse, die sich belastend auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirkten. Zum Vertrauensverlust in die Politik trug u. a. bei, dass global agierende Konzerne ohne demokratische Kontrolle Einfluss auf politische Entscheidungen nahmen und nehmen. 

In zahlreichen Veröffentlichungen ist ab Mitte der 1990er Jahre von einer Krise der politischen Bildung die Rede (vgl. Schiele 1996). Für die Schule wurde eine Reduzierung der Stundenzahlen beklagt, für die außerschulische politische Bildung gab es massive finanzielle Kürzungen. Zudem sah sich die politische Bildung zunehmend in Konkurrenz zu anderen Freizeitangeboten. Inhaltlich und konzeptionell wurde die Vermittlung von Werten der demokratischen Gesellschaft als wichtig erachtet, um Demokratieskepsis und Orientierungslosigkeit zu überwinden. 

Qualitätsentwicklung und Evaluation 
In diesem kriselnden Umfeld hielten ab Mitte der 1990er Jahre verstärkt die Konzepte von Neuer Steuerung (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement 1993) und Bildungsmanagement sowie Fragen nach Qualität und Wirkung Einzug in die Debatten. Kritiker*innen sahen darin eine Ökonomisierung von politischer Bildung, andere notwendige Schritte zu ihrer Modernisierung und Professionalisierung. Das Jugendminis­terium (BMFSFJ) veröffentlichte ab 1996 insgesamt 36 Broschüren mit Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe für unterschiedliche Arbeitsfelder (vgl. BMFSFJ 2002). Gleichzeitig wurden die Berichtspflichten der geförderten Institutionen ausgeweitet und durch Fragen zur Umsetzung von Gender Mainstreaming, zum Migrationshintergrund der Teilnehmenden oder zur partizipativen Beteiligung der Zielgruppen an den Bildungsangeboten ergänzt. 

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) wurde im Jahr 1999 umfassend evaluiert. Effekte für die praktische Arbeit waren insbesondere, dass nun alle in Deutschland lebenden Ausländer*innen als Adressaten politischer Bildung anerkannt und als Zielgruppen nun auch Jugendliche und junge Erwachsene (ab 16 Jahren) definiert wurden. Vorher war die bpb nach ihrem Erlass ausschließlich für Erwachsene und „das deutsche Volk“ zuständig. 


2000er Jahre: Mehr staatliche Steuerung der Förderpolitik 



Das Programm „Politische Bildung“ im Kinder- und Jugendplan des Bundes wurde in den 2000er Jahren gleich zweimal evaluiert – jeweils in Verbindung mit Änderungen der Richtlinien (vgl. Schröder/Balzter/Schroedter 2004 und Wach/Berg-Lupper/Peyk u. a. 2014). Auch die Politische Erwachsenenbildung kam in den Genuss einer bundesweiten Evaluation, wobei die Publikation der Ergebnisse treffend als „Trendbericht“ bezeichnet wurde (vgl. Fritz/Maier/Böhnisch 2006). Verbunden mit den Evaluationsprojekten wurden Anfragen an die Wirksamkeit politischer Bildung sowie an die Notwendigkeit, die Aktualität, Attraktivität und Qualität ihrer Arbeit gestellt. In diesem Kontext wurde immer wieder auch die Rechtfertigung des Einsatzes öffentlicher Mittel angesprochen. Defizite wurden insbesondere in Hinblick auf die erreichten Adressaten, vor allem bezogen auf sogenannte bildungsferne und sozial benachteiligte Gruppen, gesehen und es wurde deshalb für eine Weiterentwicklung von Formaten und den Ausbau der Kooperation mit Initiativen plädiert. Die genannten Studien belegten gleichzeitig jedoch deutlich die Leistungs- und Innovationsfähigkeit politischer Jugend- und Erwachsenenbildung. In der Förderpolitik gewann zunehmend eine stärkere staatliche Steuerung an Gewicht. Das für die alte Bundesrepublik im Verhältnis zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Trägern anerkannte Subsidiaritätsprinzip verlor an Bedeutung. Insbesondere mit den sogenannten Bundesprogrammen zur Eindämmung von Extremismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit setzte sich die Dynamik einer staatlichen Steuerung in den 2000er Jahren immer mehr durch. 

Durch Extremismus herausgeforderte Gesellschaft 
Die Themen Aggression und Gewalt, Aktivitäten rechtsextremistischer Gruppierungen oder rassis­tische und antisemitische Einstellungen und Verhaltensweisen waren mit dem Ende der bereits beschriebenen Förderprogramme nicht gelöst. Im Gegenteil häuften sich um die Jahrtausendwende entsprechende Vorfälle. Unter der Überschrift „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ (2001–2006) startete der Bund ein erstes Programm zur extremismuspräventiven Demokratieförderung und setzte dieses mit den Programmen „Vielfalt tut gut“ (2007–2010), „kompetent. für demokratie“ (2007–2010), „Toleranz fördern – Demokratie stärken“ (2011–2014) fort. Daran schloss sich das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ an (erste Förderperiode 2015–2019, die zweite ab 2020). Die Programme waren verbunden mit einem beeindruckenden Zuwachs an Fördermitteln und einer sukzessiven Erweiterung des extremismuspräventiven Aufgaben- und Förderspektrums durch Bundes- und Landesprogramme. In die Förderung, die sich zunächst auf Modellprojekte fokussierte, wurde die kommunale Ebene (lokale Aktionspläne, Partnerschaften) einbezogen. Es wurden Landesdemokratiezentren aufgebaut, und das Angebot wird seit 2020 durch sogenannte Kompetenzzentren und -netzwerke mit bestimmten thematischen Schwerpunkten erweitert. 2010 kam das von der bpb umgesetzte Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ hinzu. Der Bund investierte unter den Bedingungen einer befristeten Projektförderung von 2001 bis einschließlich 2019 ca. 820 Mio. Euro in die Stärkung der Zivilgesellschaft, in die Bekämpfung des Extremismus sowie in die präventive Demokratieförderung (vgl. zu „Demokratie leben!“ BMFSFJ 2020). 

Zeitgleich zur Anfangsphase dieser Programme entwickelten Wolfgang Edelstein und Peter Fauser mit Bezug auf die Themen Gewalt, Politikverdrossenheit und Rechtsextremismus die Grundlagen für das Programm der BLK (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung) „Demokratie lernen und leben“ (2001) und konzipierten eine auf gelebten demokratischen Erfahrungen basierte Demokratiepädagogik für die Schulen. Diese hätten als einzige gesellschaftliche Institution die Chance, alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Deshalb sollten im BLK-Programm durch die Demokratisierung des Unterrichts und des Schullebens Jugendliche für die Demokratie gewonnen und ihre Bereitschaft zur Mitwirkung in der Zivilgesellschaft gefördert werden. Das Programm, an dem sich Schulen in 13 Bundesländern beteiligten, lief von 2002 bis 2007. 


 2010er Jahre: Ausbau der Bundesprogramme, Aufbau einer Parallelstruktur 



Während sich um die Programme zur Extremismusprävention und Demokratieförderung eine Grundsatzdebatte über die Differenz oder Überschneidungen zwischen Prävention und politischer Bildung entwickelte, entstand zwischen der Demokratiepädagogik und der politischen Bildung eine grundlegende Kontroverse. Edelstein/Fauser hatten in ihrem Konzept den Begriff der Demokratie explizit gegen den Begriff der Politik positioniert. Sie argumentierten, dass Politik in den Augen von Jugendlichen ein negatives Image habe, und konzipierten deshalb gegen die vermeintlich einseitige Wissensvermittlung in der politischen Bildung (Demokratie als Herrschaftsform) ein erfahrungsorientiertes, soziales Demokratielernen (Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform). 

Der Ausbau der Bundesprogramme mit der damit verbundenen Vernetzung bundesweiter Akteure wurde von der politischen Bildung als Aufbau einer Parallelstruktur betrachtet – eine Kritik, der sich auch die Landeszentralen anschlossen (vgl. Landeszentralen 2018). Zudem wurde die enorm wachsende Ausstattung der Bundesprogramme mit finanziellen Mittel moniert, während die Mittel des Programms „Politische Bildung“ im Kinder- und Jugendplan über Jahre quasi eingefroren wurden. In Verbindung mit den Bundesprogrammen hat sich die institutionelle Landschaft der politischen Bildung in den vergangenen Jahren erheblich verändert (vgl. Waldmann 2020). 

Wehrhafte Demokratie und/oder Demokratieförderungsgesetz 
 Die Morde des NSU, die 2011 erst spät entdeckt wurden, verschiedene islamistisch gelesene Anschläge in Deutschland und Europa, die Entstehung von PEGIDA, die Anschläge von Hanau und Halle und nicht zuletzt der Mord an Walter Lübcke sind besonders sichtbare Belege dafür, dass die Demokratie durch Rassismus, Antisemitismus, Extremismus und durch eine damit einhergehende Delegitimierung des demokratischen politischen Systems bedroht ist. In der vergangenen Legislaturperiode hat die Bundesregierung deshalb einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet, der 2021 einen umfangreichen Katalog an Maßnahmen und Vorhaben zusammenstellte (vgl. Presse- und Informationsamt 2021). Unter den 89 Maßnahmen wird auch ein Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie genannt. Damit wird die seit langen Jahren bestehende Forderung nach einer Verstetigung und rechtlichen Absicherung der Bundesprogramme zur extremismuspräventiven Demokratieförderung aufgegriffen. Die zeitliche Befristung dieser Programme mache den Aufbau verlässlicher Akteure und Strukturen unmöglich und verhindere eine erfolgreiche und dauerhafte Bekämpfung des phänomenübergreifenden Extremismus. 


Kommt mit der Ampel das Demokratiefördergesetz? 



Insbesondere mit der Benennung als „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ wird jedoch deutlich, dass hier politische Konzepte der Inneren Sicherheit Grundlage eines präventiven Programms sind, das eigentlich bildungspolitisch ausgerichtet werden sollte. Durch die anvisierte enorm hohe Förderung von 200 Mio. Euro in den kommenden Jahren kippt der Fokus der politischen Bildung von einer auf die Potenziale mündiger Bürgerschaft ausgerichteten politischen Bildung hin zu einer auf Defizite ausgerichteten extre­mis­mus­präventiven Demokratieförderung. Das zeigt sich auch in der finanziellen Ausstattung der Förderung politischer Bildung auf Bundesebene. 

Für die politische Bildung stehen im Kinder- und Jugendplan und für die Förderung der politischen Erwachsenenbildung durch die bpb zusammen ca. 23 Mio. Euro zur Verfügung. Jenseits der Kritik an einer dauerhaften Förderung eines zwar grundlegenden, jedoch einzelnen Themas zulasten anderer wichtiger Arbeitsbereiche der politischen Bildung (Klima, Globalisierung, Europa u. v. a. m.) hätte ein Demokratiefördergesetz mit sicherheitspolitischer Ausrichtung gravierende Auswirkungen auf die Landschaft der zukünftigen Träger der politischen Bildung (vgl. Widmaier 2022). 

Politische Bildung in einer Gesellschaft der Diversität 
Pluralität und Diversität sind seit vielen Jahren gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland. Die politische Bildung hat diese Entwicklungen seit langem – mehr oder weniger intensiv – begleitet. Zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört jedoch auch, dass Menschen und Gruppen mit einer Migrationsgeschichte (ca. 25 % der Bevölkerung) gesellschaftlich und politisch nicht entsprechend repräsentiert sind. Gleichzeitig sind die Versäumnisse von Politik und Gesellschaft in Hinblick auf die Gestaltung eines gleichberechtigten und nicht-diskriminierenden Zusammenlebens unüber­sehbar. Die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung hat ihre Angebote, die Zusammensetzung der Mitarbeitenden und die eigenen Organisationskulturen zu prüfen und weiterzuentwickeln, damit sie der Diversität der Gesellschaft entsprechen. Barrieren der Teilhabe und der Zugänge zu Ressourcen sind abzubauen, damit die Landschaft der politischen Bildung vielfältiger wird. 

Weitere Trends 
Weitere Trends seit 1990 konnten in diesem Beitrag nicht näher beleuchtet werden, so z. B. die gewachsene Relevanz von Methoden für die Praxis oder Überlegungen zur politischen Medienbildung. Auch die Europäisierung und Internationalisierung der politischen Bildung (inhaltlich, konzeptionell und im Austausch) müssen aus Platzgründen ausgespart werden. Die ökologische Bildung entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), und auch die Debatte um Kompetenzen und eine (zertifizierte) Anerkennung der Teilnahme an Veranstaltungen non-formaler politischer Bildung beschäftigte die Community. Es entwickelte sich eine intensive Diskussion um Menschenrechte als Grundlage politischer Bildung, es wurde über Konzepte einer kritischen politischen Bildung nachgedacht. Teilhabe, Partizipation und Inklusion wurden zu leitenden Prinzipien der Praxis. Im 16. Kinder- und Jugendbericht ist eine der zentralen Empfehlungen die Intensivierung einer Kooperation zwischen politischer Bildung und anderen Handlungsfeldern. Schließlich steht aktuell das Nachdenken über die Differenz bzw. Trennung zwischen politischer Bildung und politischem Handeln an. 

Die politische Bildung ist demnach mit vielen Themen und Fragestellungen beschäftigt, aktuell vor allem mit dem Kampf um ihre Existenz unter den Bedingungen der Pandemie.


Literatur
Arbeitsausschuss für Politische Bildung (Hg.) (1996): Jugend und politische Bildung. Trends und Erfordernisse in den neuen Bundesländern. Dokumentation einer Fachtagung vom 9.–11. September 1996.

BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin. https://tinyurl.com/2p84tttj

BMFSFJ (2020): Abschlussbericht Bundesprogramm Demokratie leben! (Erste Förderperiode 2015–2019). Berlin.

BMFSFJ (2002): QS Kompendium. Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe (CD-ROM). Die verschiedenen QS-Hefte sind auch zu erhalten: https://www.univation.org/qs-hefte

BMFSFJ (1994): Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Bonn.

Bundeszentrale für politische Bildung (1990): Vierzig Jahre politische Bildung in der Demokratie. Kongreß im Berliner Reichstag vom 10.–12. November 1989. Bonn.

Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter (2001): Demokratie lernen und leben. Gutachten für ein Modellversuchs­programm der BLK. Berlin.

Fritz, Karsten/Maier, Katharina/Böhnisch, Lothar (2006): Politische Erwachsenenbildung. Trendbericht zur empirischen Wirklichkeit der politischen Bildungsarbeit in Deutschland. Weinheim u. a,

Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (1993): Das Neue Steuerungsmodell. Begründung, Konturen, Umsetzung. https://tinyurl.com/2p8rmdrs

Landeszentralen für politische Bildung (2018): Diskussionspapier der Zentralen der politischen Bildung zu den Planungen der Bundesregierung zur Ausweitung des Programms „Demokratie leben“, zur Etablierung eines „Nationalen Präventionsprogramms gegen islamischen Extremismus (NPP)“ und zur Schaffung eines Demokratiefördergesetzes. In: POLIS – Report der deutschen Vereinigung für politische Bildung, Heft 2, S. 6.

Schiele, Siegfried (1996): Politische Bildung in schwierigen Zeiten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 47, S. 3–8.

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2021): Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Berlin. https://tinyurl.com/mtxx9ud6

Schröder, Achim/Balzter, Nadine/Schroedter, Thomas (2004): Politische Jugendbildung auf dem Prüfstand. Ergebnisse einer bundesweiten Evaluation. Weinheim u. a.

Wach, Katharina/Berg-Lupper, Ulrike/Peyk, Sonja/Ebner, Sandra/Schüle-Tschersich, Meike (2014): Evaluation des Kinder- und Jugendplan des Bundes. Endbericht zum KJP-Förderprogramm „Allgemeine Politische Bildung“ (P 01.01). München.

Waldmann, Klaus (2020): Die Entwicklung der Landschaft der außerschulischen politischen Jugendbildung in Deutschland seit 1990. München. https://tinyurl.com/2p96snvp 

Widmaier, Benedikt (2022): Extremismuspräventive Demokratieförderung. Frankfurt/M.

Alle Internetquellen abgerufen am 15.11.2021

Zitation
Waldmann, Klaus & Widmaier, Benedikt (2022). Entgrenzungen – Deutsche Einheit – Demokratieförderung. Debatten der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in den vergangenen 30 Jahren, in: Journal für politische Bildung 1/2022, 10-17, DOI https://doi.org/10.46499/1928.2308.

Die Autoren

Klaus Waldmann, Leitender Redakteur des JOURNAL, ist seit vielen Jahren in der politischen Bildung tätig.

Benedikt Widmaier ist Direktor des Haus am Maiberg, Heppenheim, und Mitglied der JOURNAL-Redaktion.

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