Digitale Lernformen: Einblicke in die Praxis politischer Bildung

Die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Nieder­sachsen e. V. ist eine anerkannte Einrichtung der Jugend- und Erwachsenenbildung und nimmt seit ihrer durch den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Volkshochschulen initiierten Gründung 1948 auf Landesebene eine führende Rolle in der politischen Bildungsarbeit ein. Ziel der politischen Bildung von Arbeit und Leben war und ist seit jeher die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation der Lernenden und die Gestaltung einer demokratischen und sozialen Gesellschaft. Die Arbeitnehmer*innenorientierung ist das Leitmotiv der Bildungspraxis und fußt auf einer langjährigen betrieblichen Verankerung und einer engen Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern.

Bundesweit ist Arbeit und Leben mit mehr als 120 lokalen und regionalen Einrichtungen sowie dem Bundesarbeitskreis (BAK) als Dachorganisation präsent und erreicht mit ihren Bildungsangeboten jährlich hunderttausende Jugendliche und Erwachsene. Die einzelnen Landesorganisationen von Arbeit und Leben „organisieren und begleiten Lernprozesse in Workshops, Seminaren, internationalen Begegnungen, lokalen Initiativen und Projekten“ (vgl. BAK 2022) und decken mit ihrem breit gefächerten Angebot unterschiedlichste Themenfelder ab. Das Spektrum reicht dabei von Betriebs- und Personalrätekonferenzen über Schulungen für Jugend- und Auszubildendenvertretungen bis hin zu Bildungsurlauben sowie Sprach- und Integrationskursen.

Die politische Bildung gehört seit jeher zum Schwerpunkt von Arbeit und Leben. So werden aktuell z. B. im Rahmen des Förderprogramms „Aufsuchende politische Bildung für berufsaktive Zielgruppen“ der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) deutschlandweit verschiedene Projekte mit einem dezidierten Arbeitsweltbezug umgesetzt. Beispielhaft hervorzuheben sind hier „Gespaltene Belegschaft?! Politische Bildung im Betrieb“ von Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg oder „(wo)men at work: Die Vision von menschenwürdiger Arbeit als Motor von politischer Bildung und Teilhabe“ von Arbeit und Leben DGB/VHS Nordrhein-Westfalen. Im vergangenen Jahr startete außerdem das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderte Projekt „DRIFT: Hand in Hand im Betrieb – Haltung zeigen. Kollegiales Miteinander stärken“ in Verantwortung von Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt. DRIFT unterstützt Belegschaften und Betriebsrät*innen bei der kollektiven Mitgestaltung und Interessenvertretung sowie bei der Entwicklung einer diversitätsbewussten Betriebskultur. Ein ebenfalls von der bpb gefördertes Projekt ist „REFLECT – Rassismuskritische Bildungsarbeit in Sachsen nachhaltig etablieren“, in dessen Kontext modellhafte Qualifizierungen und Bildungsangebote entwickelt werden. Ziel ist es, einen Abbau bestehender rassistischer Ressentiments zu bewirken und rassismuskritische Ansätze in verschiedenste Bereiche des Lernens zu integrieren. Im Zuge dessen werden insbesondere Multiplikator*innen unterstützt, die in ihren konkreten Arbeitskontexten bereits mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert waren. 

Digitale Lernformate – ein Überblick
Arbeit und Leben hat sich bereits frühzeitig mit digitalen Lernformen auseinandergesetzt und eigene Formate erfolgreich durchgeführt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext etwa das interaktive und multimediale Projekt zur Rechtsextremismusprävention „Kein Raum für Rechts“ (AuL 2022a), gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, das 2016 veröffentlicht wurde und bundesweite Resonanz erfuhr. Die Nutzer*innen können hier virtuell das Zimmer eines rechtsextremen Menschen betreten und sich in diesem umschauen. Auf ihrer Suche nach unterschiedlichen „Nazi-Souvenirs“, welche als Schlüssel benötigt werden, um das im Raum befindliche Geheimversteck zu öffnen, erhalten die Nutzer*innen zahlreiche Hintergrundinformationen über die rechtsextreme Szene und die von ihr genutzten Codes und Symbole. Erstellt wurde „Kein Raum für Rechts“ auf Grundlage von Informationen über polizeiliche Hausdurchsuchungen sowie Gesprächen und Anmerkungen von Aussteiger*innen. Als Vorlage diente u. a. auch das Jugendzimmer eines Mitglieds des so genannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Aktuelle Lernformate von Arbeit und Leben (wie auch von anderen Bildungsträgern) lassen eine stetige Weiterentwicklung im digitalen Raum erkennen. So wird bspw. mit dem Projekt zu Demokratiestärkung im Netz „Hast Du schon gehört?!“ erstmalig der neue Kommunikationsraum der Smart Speaker und Sprachassistenten durch die politische Bildung erschlossen. Durch eine interaktive Hörgeschichte werden Nutzer*innen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Desinformationen und Verschwörungserzählungen angeregt. Das Projekt wird gefördert durch die bpb; die Idee, Gestaltung und Umsetzung liegt bei Arbeit und Leben Thüringen.

Diese und ähnliche Beispiele zeigen, dass das Interesse an digitalen Vermittlungsformaten und so genannten Digital Game-Based Learning-Ansätzen in jüngster Zeit deutlich zugenommen hat. Bei deren Entwicklung und Ausgestaltung wird vielfach auf Erfahrungswerte analoger, spielerischer Vermittlungsformate zurückgegriffen, die sich – unabhängig von den zahlreichen neuen digitalen Bildungsangeboten – nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen. Diesbezüglich sind bspw. die Spiele „Rolle vorwärts!“, das vom BAK in Kooperation mit der Agentur Goolin (Berlin) entwickelt wurde und in dem sich mit geschlechterbezogenen Fragstellungen auseinandergesetzt wird, oder „Foul! Der unsportliche Wüstenmarathon“, das 2021 für Teamende und Jugendbildungs­referent*innen zum Einsatz in der politischen Jugendbildung konzipiert wurde und sich auf spielerische Weise dem Themenfeld Diskriminierung in der Arbeitswelt widmet, zu nennen.


Bingo und Memory in der politischen Bildung



Anknüpfend an die vielfältigen Erfahrungen aus den analogen Bildungskontexten entstand 2022 mit „PuzzleGate“ (AuL 2022b) eine browserbasierte Plattform zur Demaskierung von Verschwörungsideologien, in der verschiedenste Ansätze des Digital Game-Based-Learning integriert wurden. Ein Schwerpunkt im Rahmen der Konzeption und Entwicklung von „PuzzleGate“ lag auf der Übertragung von analogen Spielformaten in die Praxis digitaler politischer Bildung. So wurden etwa bekannte Spiele wie „Bingo“ und „Memory“ für die Plattform adaptiert und für die niedrigschwellige, digitale Vermittlung von Lerninhalten aufbereitet: Im erstgenannten Fall werden anhand von Originalaufnahmen Schlüsselbegriffe der verschwörungsideologischen Szene thematisiert; im zweiten Fall stehen verschwörungsideologische Äußerungen von prominenten Persönlichkeiten im Fokus. „PuzzleGate“ ist ein frei zugängliches, multimediales und interaktives Lernangebot, welches zur weiterführenden Recherche und inhaltlichen Bearbeitung anregen sowie die individuelle Handlungskompetenz im Umgang mit Verschwörungsideologien fördern und stärken soll.

Herausforderungen und Chancen für die politische Bildungsarbeit
Trotz der immensen Vorteile digitaler Lernformate sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass deren Einsatz an die konkrete Lernsituation angepasst, folglich also didaktisch vorbereitet werden muss und die Vermittlung vor allem auch sensibler Inhalte stets einer begleitenden pädagogischen Hilfestellung und Rahmensetzung bedarf – dies impliziert natürlich auch eine genaue Bestimmung der Lehr-Lernziele und Lerninhalte. Die Erlebnisse sollten außerdem in einer gemeinsamen Reflexionsphase mit den Lernenden erörtert und eingeordnet werden. So können die Lernenden von den Erfahrungen anderer profitieren und auch ihre eigenen Perspektiven einbringen. Durch digitale Lernformate, wie z. B. Serious Games, kann die Motivation der Lernenden deutlich gesteigert sowie ein „flexible, non-linear, learner-directed approach to learning“ (Michael/Chen 2006: 142) ermöglicht werden. Eine der größten Herausforderungen für Lehrende besteht darin, eine Symbiose von Spiel und Wissensvermittlung herzustellen und Lerninhalte bspw. als Spielaufgabe zu modulieren, ohne dabei aber das explorative, selbstbestimmte Lernerlebnis (Flow-Effekt) aus dem Blickfeld zu verlieren. Herausfordernd für die Lehrkräfte ist weiterhin das eigene Rollenverständnis der Nutzer*innen. Denn oft sind diese verleitet, sich im Lernsetting des Spiels in erster Linie als Spieler*in und weniger als Lernende*r zu begreifen. Hier gilt es in der didaktischen Vorbereitung verstärkt darauf zu achten und in der Praxis die nötige Balance zwischen Spiel- und Lernphase zu finden.


Vielfalt von Formen und Formaten



Aktuelle Lernformate werden zunehmend durch Digitalisierungsprozesse unterstützt, dennoch braucht es weiterhin die pädagogische Vielfalt der Formen und Formate von Lernen – d. h. insbesondere auch den direkten Austausch von Lehrenden und Lernenden. So können digitale Lernformen zwar neue Impulse setzen, zielgruppengerechte Lernszenarios schaffen oder die intrinsische Motivation fördern, mitnichten aber die „analoge“ Bildungspraxis ersetzen. Gleichwohl verspricht ihr Einsatz im schulischen wie außerschulischen Kontext enorme Chancen für die politische Bildung, da durch sie gerade jene Akteursgruppen angesprochen werden, die bislang von den gängigen Konzepten politischer Bildung kaum erreicht werden konnten. Ein enormes Potenzial birgt hier etwa die Virtual Reality-Technologie, die in der politischen Bildungslandschaft bislang leider nur am Rande Beachtung gefunden hat (vgl. bpb 2019). Der virtuelle Escape-Room „The Truth Behind“ (AuL 2022c), der zurzeit von Arbeit und Leben Niedersachsen mit Unterstützung der bpb und in Kooperation mit der Firma Kubikfoto realisiert wird, könnte in diesem Zusammenhang ein wichtiger, weiterer Schritt sein, diese neuen digitalen Möglichkeiten für die politische Bildungsarbeit nutzbar zu machen und daran anknüpfend weitere zielgruppengerechte, niedrigschwellige virtuelle Lernformate zu entwickeln.


Literatur
Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen (AuL) (2022a): Kein Raum für Rechts. Online abrufbar: https://www.kein-raum-fuer-rechts.de/

Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen (AuL) (2022b): PuzzleGate. Online abrufbar: https://www.puzzlegate.de/ 

Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen (AuL) (2022c): The Truth Behind. Online abrufbar: https://t1p.de/tq384 

Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben (BAK) (2022): Arbeit und Leben: Für eine demokratische Kultur der Partizipation. Online abrufbar: https://t1p.de/gftxa

Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2019): Bildungssalon: „Ich sehe was, das du nicht siehst“ – historisch-politische Bildung mit Virtual und Augmented Reality (Teil 2). Online abrufbar: https://t1p.de/qrmi7 

Michael, David/Chen, Sande (2006): Serious games. Games that educate, train, and inform. Ohio.

Alle Internetquellen abgerufen am 22.8.2022.


Zitation:
Allmendinger, Björn & Lonnemann, Gesa (2022). Digitale Lernformen: Einblicke in die Praxis politischer Bildung. Bildungsvereinigung Arbeit und Leben – politische Bildung seit 1948, in: Journal für politische Bildung 4/2022, S. 46-48, DOI https://doi.org/10.46499/1931.2561.

Autor*innen

Björn Allmendinger ist Regionalleiter der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen Nord gGmbH und Lehrbeauftragter am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenen­bildung der Leibniz Universität Hannover.

Gesa Lonnemann ist Referentin der Geschäftsführung/Jugendbildungs­referentin der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen e. V. und Lehrbeauftragte am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenen­bildung der Leibniz Universität Hannover.

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