Die Hegemonie der imperialen Lebensweise als Herausforderung für die politische Bildung

Das wachsende Bewusstsein für globale gesellschaftliche Herausforderungen – allen voran die Klimakrise – führt zu einer zunehmenden Infragestellung der Lebens- und Produktionsweise des Globalen Nordens. Diskurse um eine notwendige sozial-ökologische Transformation in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen nehmen zu. Bildung wird in diesen Debatten häufig eine zentrale Rolle zugeschrieben. Akteur*innen wie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) heben ihre Rolle hervor und sehen menschliche Lernfähigkeit als Ressource. Deutlich wird hier das weit verbreitete – wenn nicht gar hegemoniale – Verständnis von Bildung als etwas per se Gutem. Doch stellt (mehr) Bildung automatisch einen Beitrag zum Umgang mit bzw. zur Lösung globaler, gesellschaftlicher Herausforderungen dar?


„Normalerweise gehen wir davon aus, dass Bildung kein Problem ist, sondern nur unzureichende Bildung problematisch ist. Normalerweise gehen wir davon aus, dass je mehr Bildung ein Mensch erfahren hat, desto größer ist sein Beitrag zu Umwelt und Gerechtigkeit. Warum werden dann die größten sozial-ökologischen Missstände von Menschen mit BAs, MAs und Doktortiteln verantwortet? Wir brauchen nicht nur ein Mehr an Bildung. Wir brauchen eine Bildung, die in die Tiefe der Dinge geht.“
(Orr 2004, zit. n. Singer-Brodowski 2019: 2)

Bevor wir der Frage nachgehen, welche Aufgabe Bildung im Kontext der Herausforderungen von globalen gesellschaftlichen Krisen zukommt und wodurch „diese“ Bildung gekennzeichnet ist, möchten wir jedoch einen Schritt zurücktreten und danach fragen, welche Rolle hegemoniale Vorstellungen von Bildung in der Hervorbringung und Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse und damit auch aktueller globaler Krisen spielen. Denn überspringen wir diesen Schritt, kommt Bildung als zentrale gesellschaftliche Infrastruktur, durch welche Denkmuster erlernt werden, die durch gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse geprägt sind, nicht in den Blick (vgl. Brookfield 2012: 140 ff.). Mit einer hegemonie­theoretischen Perspektive fragen wir daher nach der Umkämpftheit von Bildung und danach, was über die Welt gewusst wird, mit welchen Interessen und wie dieses hegemoniale Wissen gelehrt und verbreitet wird und mit welchen Subjektvorstellungen dies einhergeht.

Hegemonietheorische Perspektive auf Bildung
„Pädagogische Ideen und Konzepte sind ebenso selbstverständlicher Bestandteil des Aufbaus, der Konsolidierung, aber auch der Erosion von Hegemonie wie die praktische Pädagogik, die über Bildung und Erziehung die Aufnahme von Kultur ermöglicht.“
(Bernhard 2005: 120)

Der auf Antonio Gramsci zurückgehende Begriff der Hegemonie beschreibt eine Form von Herrschaft, bei der Ideen, Werte, Normen und Interessen einer partikularen Gruppe von der Allgemeinheit als ‚Gemeinwohl‘ akzeptiert werden. Dementsprechend fußt Hegemonie primär auf passiver Hinnahme und aktiver Zustimmung, während physische Gewalt und direkter Zwang in den Hintergrund treten. Dies verweist auf die große Relevanz des Alltagsverstandes und tiefsitzende Vorstellungen und Orientierungen, welche Alltags­praxen und Routinen prägen, für die Herstellung und Reproduktion von Hegemonie (vgl. I.L.A. Kollektiv 2019: 78 ff.). Hinsichtlich der Vermittlung des Alltagsverstands wiederum stellt Bildung ein wichtiges Terrain dar, denn bereits in der Schule werden bestimmte Aspekte unserer (welt-)gesellschaftlichen Wirklichkeit entweder als zustimmungswürdig oder aber wenigstens als ‚normal‘ und damit als nicht veränderungswürdig oder gar alternativlos vermittelt, etwa Wachstum als persönliches und wirtschaftspolitisches Ziel oder soziale Ungleichheit als Resultat individuellen Fehlverhaltens. Formelle Bildung stellt insofern ein zentrales Moment der Formung und Festigung gesellschaftlicher Verhältnisse dar (vgl. I.L.A. Kollektiv 2017: 50 ff.).


Alle Bildung ist politisch



Hegemonie als Ausgangspunkt lenkt also die Perspektive auf gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse und deren Reproduktion in und durch gesellschaftliches Handeln. Dies bedeutet auch, dass sowohl Lehrende als auch Lernende als vergesellschaftete Subjekte verstanden werden müssen, die in diese Verhältnisse eingebunden sind. Bildung, Pädagogik, Wissens­produktion und -vermittlung können dementsprechend nicht per se als neutral und gut angesehen werden. Vielmehr ist alle Bildung politisch.

Imperiale Lebens- und Produktionsweise
Die vielfältigen global-gesellschaftlichen Krisenprozesse (‚Vielfachkrise‘), die gesellschaftlich auch zunehmend als Herausforderung begriffen werden, verschärfen sich – angeheizt von der sich global verallgemeinernden und intensivierenden imperialen Lebens- und Produktionsweise (ILW) (vgl. Brand/Wissen 2017). Diese lässt sich ebenfalls als Ergebnis jahrzehntelanger Hegemoniebildung verstehen, die globale Ausbeutung und das Leben auf Kosten anderer teils verschleiert, teils als ‚normal‘ erscheinen lässt. Die ILW beruht auf der Ausbeutung von Menschen und Mitwelt, wobei der Globale Norden überproportional auf Arbeit und Ressourcen im Globalen Süden zugreift und Kosten wiederum zu einem großen Teil in den Globalen Süden externalisiert. Sie verspricht unbegrenzten Reichtum, kann auch deshalb alternative Lebens- und Produktionsweise verdrängen, bleibt aber notwendig exklusiv, da sie ökonomisch wie physikalisch nicht verallgemeinerbar ist (vgl. I.L.A. Kollektiv 2017: 11 ff.).

Dass die ILW trotz des zunehmenden Krisenbewusstseins selten ernsthaft infrage gestellt wird, liegt an ihrer hegemonialen Stellung: Sie ist in individuellen Handlungen, politischen Institutionen und materiellen Infrastrukturen tief verankert. Kulturelle Leitbilder normalisieren die Vorstellung eines Lebens auf Kosten anderer als Vorstellung eines ‚guten Lebens‘, welches alltägliches Handeln und Denken prägt (vgl. ebd.: 6 ff.). Gesetze, nationale Abkommen und andere politische Strukturen beruhen ebenfalls hierauf. In der gebauten Welt der Autobahnen, Kohlekraftwerke oder Pipelines ist sie materialisiert.

Bildung stabilisiert die imperiale Lebensweise
„Wir sitzen in einem Bildungszug, der auf einen Bahnhof zufährt, der jetzt schon abgerissen ist!“
(Wiebelitz/Toussaint 2019)

Die Hegemonie der ILW prägt auch Verständnisse von Bildung und davon, welche Bildung, welche Fähigkeiten und Kompetenzen für ein – im Sinne der ILW – gutes Leben notwendig sind. Mit der vorrangigen Orientierung moderner, westlicher Bildung an dem Ziel, Menschen für Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt vorzubereiten, geht die Logik einher, durch entsprechende Leistung ein gutes Leben im Sinne der ILW führen zu können. Das Streben nach einem ‚guten Leben‘ ist dementsprechend für viele Menschen gleichbedeutend mit dem Streben nach ‚höher, schneller, weiter, mehr‘. Die Aufgabe von Bildung wird dementsprechend darin gesehen, die Einzelnen auf diesen zunehmend globalen ‚Wettkampf‘ vorzubereiten. Daraus folgen in Hinblick auf den Bildungsprozess leitende Prinzipien wie Leistungsorientierung, Konkurrenzdenken und Konformismus. Lehrinhalte und -formen hängen eng mit Machtverhältnissen und der Ausgestaltung der ILW zusammen, stützen und erhalten diese, ohne sie zu benennen (vgl. I.L.A. Kollektiv 2017: 48 ff.). Hegemoniale Weltsichten, Wahrnehmungen und entsprechendes Wissen spiegelt sich in Qualifizierungsprofilen, Curricula und inhaltlichen Schwerpunkten wider, die in ökonomisch motivierten und am globalen Arbeitsmarkt ausgerichteten Bildungsoffensiven Verbreitung finden (vgl. Seitz 2002: 445).

Von sozial-ökologischen Krisen zu einer solidarischen Lebensweise?
Die Hegemonie der ILW scheint oft alternativlos und zugleich zerstört sie schon lange und fortwährend die Lebensgrundlage von Menschen. Doch die Art und Weise, wie wir miteinander und mit der Mitwelt leben, ist menschengemacht und damit auch veränderbar. Wie also kann der Aufbau einer solidarischen Lebens- und Produktionsweise gelingen, die ein gutes Leben für alle zum Ziel hat? Wie gelingt es, Zustimmung zu anderen Normalitäten, zu neuen Erzählungen von erstrebenswertem Zusammenleben zu schaffen?

Klar ist, dass es keinen ‚Masterplan‘ zur Lösung bestehender Krisen und zum Aufbau einer solidarischen Lebens- und Produktionsweise geben kann, sondern dass Lösungen jeweils kontextspezifisch und partizipativ entwickelt werden müssen. Dennoch ist es möglich und wichtig, sich über Elemente zu verständigen, die in diesem (Such-)Prozess als Orientierung dienen können. Das I.L.A. Kollektiv (vgl. 2019: 18 ff.) schlägt hierfür fünf ‚Konturen‘ oder Prinzipien vor: Commoning (also die Schaffung und Erhaltung von Gemeingütern bzw. Commons), Demokratisierung (Einbindung aller Betroffenen in Entscheidungen), ReProduktion (Orientierung am Wohlergehen anderer Menschen und die Aufhebung der Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit), Dependenz (Orientierung an der Abhängigkeit der Menschen von der Biosphäre) und Suffizienz (genug für alle, statt mehr für wenige).

Das Potenzial von Bildung
Damit sozial-ökologische Transformation gelingt und darüber der Aufbau solidarischer Lebens- und Produktionsweisen, gilt es die verschiedenen Ebenen der Verankerung der ILW im Blick zu behalten und dementsprechend drei verschiedene Strategien zu verfolgen. Mit Bezug auf Bildungskontexte stellt sich zum einen die Frage, wie Formate geschaffen werden können, in denen die Hegemonie der ILW sichtbar gemacht und problematisiert wird. Zugleich sollte es nicht bei der Infragestellung der ILW bleiben: Wie können bereits bestehende Alternativen im Sinne der solidarischen Lebens- und Produktionsweise kennengelernt und erlebt werden? Auch die Absicherung und Verankerung der solidarischen Lebens- und Produktionsweise muss in Bildungskontexten berücksichtigt werden: Welche Kompetenzen, Fähigkeiten und welche Informationen, welches Wissen brauchen Menschen, um an der Gestaltung und Etablierung dieser zu partizipieren, und wie können diese erlernt werden?


Lernformate müssen Kopf, Herz und Hände einbeziehen



Ein positives Praxisbeispiel diesbezüglich stellt das Konzeptwerk Neue Ökonomie aus Leipzig dar. In der Bildungsarbeit des Konzeptwerks geht es einerseits darum, erprobte solidarische Alternativen kennenzulernen (Solidarische Landwirtschaft, Wohnprojekte, Leih- und Tauschläden etc.) und andererseits darum, Lernräume zu schaffen, in denen gängige Annahmen hinterfragt und diskutiert und Menschen in ihrer Selbstwirksamkeit, Achtsamkeit und Solidarität bestärkt werden. Zentral in der Bildungsarbeit des Konzeptwerks ist Machtkritik als Kritik an Normalvorstellungen, die mit der ILW einhergehen, aber auch in Form des Sichtbarmachens von bestehendem Widerstand und Alternativen. Bildung findet deshalb an praktischen Beispielen statt, in denen Prinzipien der solidarischen Lebensweise aufscheinen oder diese als eine Art Kompass für die Reflexion von Inhalten dienen. Die Lernkontexte docken an Alltagswelten und Alltagspraktiken von Lernenden an. Dabei geht es neben anderen Lerninhalten auch um andere Lernformate, die Kopf, Herz und Hände einbeziehen, in denen Lernen über experimentieren und reflektieren stattfindet und die darüber hinaus auch Impulse für das Verlernen von als normal erachteten Verhaltens- und Denkweisen geben (vgl. Kaufmann 2020). Das Konzeptwerk versucht, viele der oben genannten Konturen auch selbst in seine Arbeitsweise zu integrieren: Es organisiert sich basisdemokratisch, orientiert seine Löhne an den individuellen Bedürfnissen und ist sich der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion seiner eigenen Verwobenheit in die Reproduktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bewusst.

Fazit
Eine Bildung, die das Ziel eines ‚guten Lebens für alle‘ ernst nehmen möchte, muss zuallererst reflektieren, wo sie selbst ein Hindernis auf dem Weg dahin darstellt. Wir haben in diesem Artikel vorgeschlagen, diese Reflexion durch eine hegemonietheoretische Brille anzugehen, um die Einbettung von Bildung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse hervortreten zu lassen. In unserer derzeitigen Gesellschaft ist die ILW hegemonial; d. h., sie ist für viele Menschen aufgrund ihres Wohlstandsversprechens (das sie jedoch nicht für alle einhalten kann) attraktiv, wird den Individuen aufgrund fehlender Alternativen (bzw. deren geringer Sichtbarkeit) aber auch aufgezwungen. Bildung kommt hier nicht nur die Aufgabe zu, die ILW zu kritisieren, sondern auch zum Finden und Ausprobieren von Alternativen zu befähigen. Da die institutionellen Grenzen formaler Bildung dies bspw. in der Schule häufig stark erschweren, ist ihre Öffnung für entsprechende Akteur*innen ein guter erster Schritt. 


Literatur
Bernhard, Armin (2005): Antonio Gramscis Politische Pädagogik. Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells. Hamburg.

Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München.

Brookfield, Stephen (2012): Critical Theory and Transformativ Learning. In: Taylor, Edward W./Cranton, Patricia (Hg.): The Handbook of Transformative Learning. Theory, Research and Practice. San Francisco, S. 131–146.

I.L.A. Kollektiv (Hg.) (2017): Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert. München.

I.L.A. Kollektiv (Hg.) (2019): Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise. München.

Kaufmann, Nadine (2020): Es geht ums Ganze! Sozial-ökologische Transformation braucht machtkritische Bildung, https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/es-geht-ums-ganze/

Seitz, Klaus (2002): Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen Globalen Lernens. Frankfurt/M.

Singer-Brodowski, Mandy (2019): Bildung für nachhaltige Entwicklung – Bedeutung und Handlungsbedarfe im (inter-)nationalen und kommunalen Kontext, www.pi-muenchen.de/wp-content/uploads/2020/10/191105-Vortrag-Muenchen-Singer-Brodowski.pdf

Wiebelitz, Fedelma/Toussaint, Nisha von Teachout für die Demokratische Stimme der Jugend auf dem Kongress BildungMachtZukunft 2019 in Kassel.

Alle Internetquellen abgerufen am 15.08.2021.


Die vom I.L.A. Kollektiv herausgegebenen Publikationen „Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert“ (2017) und „Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise“ (2019) sind im Open Access auf der I.L.A.-Webseite unter https://ilawerkstatt.org kostenlos herunterladbar.


Zitation:
Inkermann, Nilda & Eicker, Jannis (2021). Die Hegemonie der imperialen Lebensweise als Herausforderung für die politische Bildung, in: Journal für politische Bildung 4/2021, 32-37, DOI https://doi.org/10.46499/1798.2171.

Die Autor*innen

Nilda Inkermann promoviert an der Universität Kassel zu Globalem Lernen und sozialökologischer Transformation, ist Mitglied im Kollektiv „Imperiale Lebensweise und Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert“ (I.L.A.) und Mitbegründerin des Netzwerks Mind Behaviour Gap (www.mindbehaviourgap.de).

Jannis Eicker promoviert an der Universität Kassel zur aktuellen Konjunktur der extremen Rechten, ist ebenfalls Mitglied im I.L.A. Kollektiv und im Forum kritische politische Bildung.

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