Der lernende Stadtteil – Demokratie im Quartier

„Demokratie ist nichts, was man bei Amazon bestellen kann. Ob Demokratie bestehen bleibt, hängt davon ab, ob wir uns einmischen“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch in der Demokratiewerkstatt Krefeld Anfang 2019 anlässlich des Jubiläums des Grundgesetzes. Wie das gerade auch mit „schwer erreichbaren“ Zielgruppen gehen kann, wird hier am Beispiel der Demokratiewerkstatt Krefeld gezeigt. Das Skript des lernenden Stadtteils begreift Lernen als einen eigenständigen Wachstums- und Konstruktionsprozess. An Schnittstellen zwischen klassischer Sozialarbeit, Gemeinwesenarbeit und Erwachsenenbildung werden Zugänge zu den vor Ort gesellschaftlich relevanten Prozessen des jeweiligen Miteinanders und den örtlichen kommunalen Strukturen geschaffen. 


Das Konzept des lernenden Stadtteils kann nur gelingen, wenn die Grundprämisse „Lernen als Wachstum“ für alle Beteiligten gilt: Bürger/-innen, Mitarbeiter/-innen der Verwaltung, Vertreter/-innen der Politik und der zivilgesellschaftlichen Strukturen, die an der Gestaltung des Stadtteils beteiligt sind, gestalten die Zukunft in demokratisch-solidarischer Verständigung mit inklusiv partizipativer Prozesskompetenz (vgl. Garrison/Neubert/Reich 2016; Meyer 2019; Reich 2012).

Die Demokratiewerkstatt Krefeld ist ein Kooperationsprojekt von FESCH (Forum Eltern und Schule) und der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen mit vor Ort vorhandenen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ziel und Programm ist Demokratieentwicklung auf der Basis gemeinsamer Lernwege. Zentrale zivilgesellschaftliche Partner in Krefeld sind die Emmaus Gemeinschaft Krefeld e. V., die Urbane Nachbarschaft Samtweberei (UNS)/Montag Stiftung Urbane Räume und die Beschäftigungsinitiative Anstoss e. V. Dabei ist die Grundlage für die Arbeit der Demokratiewerkstatt ein inklusives Prozessverständnis und eine konsequente fragende Haltung:

  • a) Welche wichtigen Themen sehen wir in unseren Stadtteilen und welche Motivationen zeigen sich?
  • b) Welche Gruppen haben wenig miteinander zu tun? Wo und wie lassen sich Begegnungen initiieren? Wie lässt sich dabei der gesellschaftliche Zusammenhalt verbessern? Wie kommen wir in diesem Prozess zu Austausch, gemeinsamen Visionen und Zielen?
  • c) Wie entstehen Projekte, die nachhaltig und von vielen getragen sind? Wie können diese Prozesse begleitet werden?
  • d) Wie müssen die Strukturen in einem Stadtteil ausgestaltet sein, sodass das Engagement der Einzelnen und der Initiativen wertgeschätzt und eingebettet ist?

In der Demokratiewerkstatt Krefeld wurden dabei Zielgruppen in den Blick genommen, die üblicherweise nicht an erster Stelle stehen: Wohnungslose, Geflüchtete, Bedürftige des Stadtteils, die alle als Teil des Netzwerks betrachtet werden.

Das Quartier gemeinsam leben und lernen
Anlässlich seines Besuches des Werkstatttages „Demokratie im Quartier“ in Krefeld im Rahmen der bundesweiten Initiative „Demokratie ganz nah – Ideen für ein gelebtes Grundgesetz“ rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Politik eindringlich auf, Bürger/-innen auf Augenhöhe zu begegnen: „Menschen wollen nicht belehrt, sie wollen beteiligt werden“. Damit begab er sich mit seiner Frau Elke Büdenbender auf einen „Dialogischen Spaziergang“, bei dem der Besuch der Emmaus Gemeinschaft – Die Brücke ein zentrales Anliegen war. „In Krefeld beispielsweise habe ich erlebt, wie politische Bildung und Sozialarbeit zusammentreffen, wie Menschen mit und ohne Obdach nicht nur ins Gespräch kommen, sondern neue Gemeinschaften bilden, ein Quartier verändern und vorleben, was die Achtung der Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetzes ihnen bedeutet“ (vgl. bpb 2019: 8). Anhand der Stationen des „Dialogischen Spazierganges“ in Krefeld sollen im Folgenden Entstehung und Funktion der Demokratiewerkstatt skizziert werden.

Ausgangspunkt: Emmaus – Die Brücke
Der Tagestreff und Begegnungsraum Die Brücke für Bedürftige liegt in direkter Nachbarschaft zu den von der UNS reaktivierten und mit Leben gefüllten Räumen und öffnet schon seit mehr als 15 Jahren regelmäßig seine Türen. Als die UNS ihr Engagement begann, wurde Anfang 2015 mit Ehrenamtlichen, Bedürftigen und Aktiven eine Zukunftswerkstatt durchgeführt, um eine eigene Vision für die „neue Nachbarschaft“ zu entwickeln. Die Vision eines Begegnungsraumes bekam Nahrung und gemeinsam mit allen Beteiligten (Obdachlosen, Geflüchteten, Ehrenamtlichen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und letztlich auch mit den neuen Nachbar/-innen) wurde in den letzten Jahren Die Brücke mit ihrem angeschlossenen Stadtteilgarten zu einem Kleinod entwickelt.

Im Garten treffen sich Menschen regelmäßig über gesellschaftliche Grenzen hinweg. Neue Kommunikationsräume (Sitzgelegenheiten und Grill) wurden mit Studierenden und Tagestreffgästen entwickelt und gebaut, Renovierungen der Aufenthaltsräume durchgeführt. Ein öffentlicher Boule-Platz auf Initiative eines Bürgers, Fahrrad-Repaircafés und Urban Gardening unter Beteiligung von Anstoss e. V. (als Beschäftigungsinitiative mit Langzeitarbeitslosen) sowie Dienstleistungen wie z. B. Entrümpelungen und Umzüge mit und durch die Emmaus-Gemeinschaft im Stadtteil werden zu Orten des Austausches zwischen Menschen mit und ohne Obdach. Ziel und Methode zugleich war es, den Bewohner/-innen aus der direkten Nachbarschaft zu begegnen und sie mit ihren Ideen einzubinden. Dies wird seit 2017 in einem parallel laufenden Prozess „Wir als Bürger*innen im Stadtteil aktiv“ gestaltet. Heute werden verschiedene Feste und Aktionen geplant und gemeinsame Fortbildungen, Qualifizierungen und Workshops, begleitet von Veranstaltungen der politischen Bildung, durchgeführt. Lokalpolitik, Bürgervereine, Bezirksvertretung und Verwaltung im und um den Tagestreff werden dabei miteinander ins Gespräch gebracht.

Weiterentwicklung: Bürgerschaftliches Engagement
Aus einer Zukunftswerkstatt im Jahr 2017 ist das Projekt „Null-Müll“ hervorgegangen. Mit Bürger/-innen, Abfallbeseitigungsgesellschaft und Gemeinwesenarbeit wurden zahlreiche kreative Ideen zur Müllvermeidung entwickelt. Das ehrenamtliche Engagement und die Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung zeigten letztlich Erfolge. Aber Ideen und Projekten können auch scheitern, was ebenfalls allen Beteiligten Lernprozesse abnötigt. Die Verwaltungsstrukturen mussten mit dem starken Engagement umgehen, während die Bürger/-innen nicht immer alles so umsetzen konnten wie gewünscht.

Lernen im Sinne des Gemeinwohls


Im Kontext von „Wir als Bürger*innen im Stadtteil aktiv“ wurde mit Bewohner/-innen der UNS das Format des Erzählsalons als Handlungsfeld geschaffen, erlebt und erprobt, bei dem Begegnungen im Stadtteil zur Förderung des Zusammenlebens beitragen. Daraus entsteht derzeit ein Pool von Moderator/-innen und aktiven Multiplikator/-innen, die für die unterschiedlichsten Handlungsfelder Qualifizierung und Unterstützung bekommen.

Ausdifferenzierungen: Dialogische Spaziergänge, Demokratie-Workshops, Bildungsfahrten
Mit Schüler/-innen, Geflüchteten und Zivilgesellschaft wird das Format „Dialogischer Stadtspaziergang: Meine Stadt – Deine Stadt – Unser Leben“ durchgeführt. Es ermöglicht das Kennenlernen untereinander und ein Lernen voneinander. Hier dominiert eine zentrale Fragestellung: „Wie wollen wir gemeinsam leben?“ Dazu werden Workshops organisiert, bei denen Dialogformate, Elemente von Betzavta (israelisches Demokratietrainingskonzept) sowie Ansätze von Zukunftswerkstätten aufeinander aufbauend helfen, nicht beim Träumen stehenzubleiben, sondern auch Mut für das eigene, ganz konkrete Handeln vor Ort im Stadtteil zu bekommen. Projekte von Schüler/-innen mit Obdachlosen, gemeinsames Kochen von Jugendlichen und Geflüchteten, Diskussionen zum Thema Gender, Fragen nach Vielfalt und Respekt im Stadtteil und gemeinsame Aktionen im Stadtteilgarten, Fahrten zum Landtag, Bundestag und in die Gedenkstätte Auschwitz waren das Ergebnis.

Demokratie im Quartier: Entwicklung und Konzept
Eine Arbeitsgruppe aus Bürger/-innen wurde im Auftrag der Montag Stiftung in den Jahren 2016-2017 bei der Etablierung und Entwicklung nachhaltiger demokratischer Strukturen von FESCH begleitet. Die dabei entstandenen Strukturen des „Viertelsrates“, des „Viertelsratschlages“ und des Projektstammtischs mit der Projektjury sind Grundpfeiler der örtlichen Teilhabe und Partizipation.

Das Konzept des lernenden Stadtteiles, die darin verorteten Methoden und die spezifische Didaktik baut auf den Erfahrungen aus rund 30 Jahren Praxis und Theorie der Zukunftswerkstatt sowie der eigenen Praxis aufsuchender (politischer) Bildungsarbeit in Kontexten sozialer Handlungsfelder auf (vgl. Meyer 2019). Dabei spielen demokratische Grundprinzipien auf allen Ebenen zentrale Rollen. Der Einzelne wird als individueller Akteur in seinem Umfeld begriffen und ermutigt, Ideen und Vorstellungen einzubringen. Die Strukturen vor Ort selbst sind vom bürgerschaftlichen Engagement für das Gemeinwesen getragen. Methoden sind eine inklusive Prozessbegleitung für die Stadtteilentwicklung (vgl. Montag Stiftung 2013) sowie bewährte Konzepte von informeller bis zu formaler Beteiligung bis in die Kommunalstrukturen hinein. Diese Strukturen, Prinzipien und Methoden basieren auf den Grundlagen konstruktivistischer Werkstattarbeit.

Der Strukturaufbau orientiert sich gezielt an Funktionen und Kompetenzen eines viable system models (Modell lebensfähiger Systeme) (vgl. Malik 2015: 69). Innerhalb eines Stadtteils hilft das Modell dabei, nachhaltiges eigenständiges Lernen im Sinne des Gemeinwohls zu etablieren. „Das viable system model beschreibt ein in seiner heterarchischen, heterogenen Struktur viables System, das in seinem Aufbau dezentral und autark in gemeinschaftlich definierten […] ‚Leitplanken’ fähig ist, Prozesse zu initiieren, zu begleiten und weiterzuentwickeln. Dabei werden fünf Systeme (als agierende Einheiten) unterschieden […]. Die grundlegende Regel besagt: Die Systeme arbeiten autark im Sinne der Zielsetzung. Nur bei Widerstand […] werden die anderen Systeme hinzugezogen oder Orte der Klärung bzw. Entwicklung gesucht“ (Meyer 2019: 125). Beispielhaft werden hier die Gremien der UNS im Jahr 2018/19 genannt:

  • System 1 (Operieren): Der Projektstammtisch. Generierung von Inhalten und Themen. Projektfond/Finanzen/Jury in Eigenverantwortung.
  • System 2 (Koordinieren und stabilisieren): Der Viertelsrat. Koordination von Aktivitäten und Inhalten. Gesamtfinanzverantwortung.
  • System 3 (Evaluieren und optimieren): Klausurtagungen. Prozesssteuerung und Verantwortung für Rahmenbedingungen.
  • System 4 (Beobachten, aufklären und entwickeln): Arbeitsgruppe Partizipation und Teilhabe der lokalen Gemeinwesenarbeit und FESCH. Blick auf das Gesamtsys­tem, zukünftige Weiterentwicklung.
  • System 5 (Entscheiden): Geschäftsführung der UNS. Die Entscheidungshoheit wurde mittlerweile auf den Viertelsrat übertragen. Die formalrechtliche Trägerstruktur wurde dann seit 2019 für die Zukunft neu aufgebaut.

Das Konzept des lernenden Stadtteils bietet Partizipation und Teilhabe mittels gemeinschaftlich zu entwickelnder Struktur. Es summiert begleitende, strukturierende, qualifizierende, aufsuchende, dialogische und partizipatorische Formate und Methoden in konstruktivistischer Werkstattarbeit und setzt sie im Gesamtprozess gezielt ein. Dabei sind Bildungsprozesse als Lern- und Wachstumsprozesse bei allen Beteiligten zu sehen. Sie entfalten sich an Orten praktischer Relevanz auf Inhalts-, Struktur- und Beziehungsebene innerhalb von Spannungsfeldern.

Zukunft gestalten in demokratisch-solidarischer Verständigung als konstruktivistische Werkstattarbeit zeichnet eine inklusiv partizipative Prozesskompetenz als Ziel und Methode in einem aus, wobei die Etablierung einer demokratischen Kultur vor Ort verfolgt wird. Die Verantwortung dafür legt sie in die Mitte der Verständigungsgemeinschaft – hier ist es der Stadtteil.

Weitere Informationen rund um die Demokratiewerkstatt Krefeld
  • FESCH – Forum Eltern und Schule: www.fesch-politische-bildung.de
  • Emmaus Gemeinschaft Krefeld e. V.: www.emmaus-krefeld.de
  • DIE WERKSTATT Krefeld: www.werkstatt-meyer.de
  • Zukunftswerkstätten-Verein zur Förderung demokratischer Zukunftsgestaltung e. V.: www.zukunftswerkstaetten-verein.de
  • Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen: www.jungk-bibliothek.at

Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2019): Demokratie ganz nah – 16 Ideen für ein gelebtes Grundgesetz, www.bpb.de/shop/lernen/weitere/291263/demokratie-ganz-nah

Claussen, Wiebke/Geffers, Stephan G./Meyer, Lars/Spielmann, Walter (Hg.) (2013): Die Kunst der Partizipation. Betroffene zu Beteiligten machen, https://jungk-bibliothek.org/wp-content/uploads/2016/09/endtext-jbz-ap-28-zwtagung-print.pdf 

Garrison, Jim/Neubert, Stefan/Reich, Kersten (2016): Democracy and education reconsidered: Dewey after one hundred years. New York.

Malik, Fredmund (2015): Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme. Bern.

Meyer, Lars (2019): Zukunft gestalten in demokratisch-solidarischer Verständigung, https://kups.ub.uni-koeln.de/9476/1/Konstruktivistische_Werkstatt.pdf

Montag Stiftung (Hg.) (2013): Inklusion vor Ort. Der Kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch. Bonn.

Reich, Kersten (2012): Konstruktivistische Didaktik. Das Lehr- und Studienbuch mit Online-Methodenpool. Weinheim u. a.

Alle Internetquellen abgerufen am 25.03.2020.

Zitation:
Meyer, Lars (2020). Der lernende Stadtteil – Demokratie im Quartier. Wie aufsuchende, inklusive politische Bildung gelingen kann, in: Journal für politische Bildung 2/2020, 4-9.

Der Autor

Dr. Lars Meyer, Dipl. Päd., ist als Moderator, Berater und Prozessbegleiter für Schulen, Verbände, zivilgesellschaftliche Gruppen, nationale und internationale Netzwerke im Kontext von beruflicher, politischer und sozialer Bildung tätig, u. a. seit 2015 für das Forum Eltern und Schule (FESCH).

Ein Beitrag aus