Demokratie und Arbeit

Wer sich heute mit Studien zu den moralischen Voraussetzungen und zur institutionellen Organisationsform von Demokratien beschäftigt, wird darin kaum etwas zur Bedeutung der jeweils gegebenen Arbeitsverhältnisse finden können; vieles ist in solchen Texten zum Erfordernis politischer Gleichheit, zur Notwendigkeit einer Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger in die politische Öffentlichkeit und zur Wünschbarkeit möglichst vernünftiger Kompromisse unter zerstrittenen Parteien zu lesen – aber so gut wie gar nichts zu der Frage, ob nicht auch die gesellschaftliche Arbeit in einer Weise eingerichtet sein müsste, die eine Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder an der demokratischen Willensbildung ermöglicht.

Dies war allerdings in der Geschichte des politischen Denkens der Neuzeit nicht immer so: Es gibt eine weit zurückreichende, bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg niemals abgerissene Tradition, in der die These verfochten wurde, dass demokratische Staaten die moralische Pflicht besitzen, auf ihrem Territorium für Arbeitsverhältnisse zu sorgen, die allen Beschäftigten eine uneingeschränkte Nutzung ihrer demokratischen Freiheiten erlauben. Bevor ich systematisch umreißen werde, warum die Annahme eines solchen Ergänzungsverhältnisses zwischen politischer Demokratie und demokratieförderlichen Arbeitsbedingungen gerechtfertigt ist, möchte ich kurz an diese heute weitgehend vergessene Tradition erinnern. Dieser Rückblick wird ein erstes Licht auf die Scharnierstellen werfen, an denen die soziale Organisation der Arbeit Einfluss auf die Fähigkeit der Beschäftigten nimmt, sich ungezwungen und selbstbewusst an den Praktiken der öffentlichen Willensbildung zu beteiligen.

Eine vergessene Tradition
 Schon bei Adam Smith finden sich überraschenderweise erste Bedenken dahingehend, dass die fortschreitende Mechanisierung und Zerstückelung der Arbeit dem politischen Klima in einem Gemeinwesen abträglich sein könnten. In seinem „The Wealth of Nations“ äußert Smith ganz am Rande die Befürchtung, dass die mit der wachsenden Arbeitsteilung einhergehende Vereinseitigung und Entleerung der individuellen Verrichtungen zu einer seelischen und geistigen Verarmung der Werktätigen führen könnte, in Folge derer sie dann zu einer hinreichend informierten Teilnahme am politischen Leben nicht mehr in der Lage sein würden (Smith 2005: 747f.). Diese periphere Beobachtung von Smith wird knapp fünfzig Jahre später zum Schlüssel von Hegels Analyse der modernen Marktwirtschaft. Dieser geht in dem der Arbeit gewidmeten Kapitel seiner „Rechtsphilosophie“ davon aus, dass die arbeitenden Stände nur dann zu einem „allgemeinen Leben“ und damit einer aktiven Teilnahme am „vernünftigen Ganzen“ der Gesellschaft in der Lage wären, wenn ihre beruflichen Tätigkeiten hinreichend komplex, genügend abgesichert und zudem in branchenspezifischen, das jeweilige Berufsethos zelebrierenden Korporationen aufgehoben seien (Hegel 1970: §§ 250–256). Mit diesem Gedanken Hegels ist der Keim zur Auffassung gelegt, nach der zwischen einer funktionsfähigen Demokratie und fairen Arbeitsbedingungen ein notwendiges Ergänzungsverhältnis bestehen muss: Die arbeitsteilig aufeinander bezogenen Verrichtungen der Masse der Bevölkerung müssen der normativen Auflage genügen können, alle Beschäftigten mit dem Maß an Selbstvertrauen, Wissen und Ehrgefühl auszustatten, das erforderlich ist, um ohne Scham und Angst an der gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung teilnehmen zu können. Im Anschluss an Hegel wird die damit umrissene Vorstellung zum Grundstein einer ganzen, allerdings eher untergründig wirkenden Tradition. In Frankreich wird sie durch Durkheims Solidarismus und dessen Anhänger begründet (vgl. Durkheim 1992), auf der britischen Insel durch den Zunftsozialismus eines G. D. H. Cole, der von Oxford aus Einfluss auf die englische Arbeiterbewegung nimmt. Beide Flügel eint der Gedanke, dass eine funktionsfähige Demokratie an die Voraussetzung einer fairen, inklusiven und ständig bewusst gehaltenen Arbeitsteilung gebunden ist. 

Vom Mitbestimmungsrecht Gebrauch machen


Das normative Argument, mit dem in dieser Tradition das notwendige Ergänzungsverhältnis von Demokratie und fairer Arbeitsteilung gerechtfertigt wird, findet sich der Sache nach bereits bei Hegel und wird auch bis in die 1960er Jahre in unterschiedlichen Spielarten wiederholt: Nur, wer über einen anerkennungswürdigen, sozial auch tatsächlich anerkannten und entsprechend sozial umhegten Arbeitsplatz verfügt, wird die kognitiven Fähigkeiten und das psychische Selbstvertrauen besitzen können, sich an der gesellschaftlichen Willensbildung so wirksam zu beteiligen, wie es die Idee einer aktiven, souveränen Bürger*innen­schaft verlangt. Als angemessen oder „gut“ genug organsiert gelten hier die gesellschaftlich geforderten Arbeiten insofern nur dann, wenn sie es allen Beschäftigten ermöglichen, ungezwungen am demokratischen Leben der Gesellschaft mitzuwirken. Allerdings muss einschränkend hervorgehoben werden, dass in der damit angedeuteten Tradition alle diese normativen Auflagen nur für Arbeitstätigkeiten gelten sollten, für die eine wirtschaftliche Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt bestand und die daher als „Erwerbstätigkeiten“ betrachtet werden konnten. Weder die unverzichtbaren, beinah ausschließlich von Frauen ausgeübten, Hausarbeiten noch unvergütete Leistungen im Sozialsektor wurden hier als Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung gewertet.

 Abgesehen von diesem gravierenden Fehler, der sich einer viel zu engen Vorstellung von allen für die soziale Reproduktion eines komplexen Gemeinwesens erforderlichen Arbeitstätigkeiten verdankt (Honneth 2021), muss aber zunächst festgehalten werden, dass das zentrale Argument für faire und gute Arbeitsbedingungen in der erwähnten Tradition einen nahezu selbstverständlichen, rein immanenten Charakter besitzt. Die in demokratischen Regimen geforderte Mitwirkung aller Gesellschaftsmitglieder an den politischen Entscheidungen verlangt aus sich heraus, die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, normativen Regeln zu unterwerfen, die es jedem und jeder Beschäftigten erlauben, von seinem und ihrem Mitbestimmungsrecht auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Diese These klingt so überzeugend, so eingängig und nahezu trivial, dass sich die Frage stellt, warum die gegenwärtige Demokratietheorie von ihr kaum eine Notiz zu nehmen scheint. Die Gründe dafür können kaum mit bloßer Ignoranz oder empirischer Unkenntnis zu tun haben, sie müssen vielmehr mit einer tieferliegenden, begrifflichen Weichenstellung zusammenhängen, die den Stellenwert einer gut und fair verfassten Arbeitswelt für das Gelingen demokratischer Partizipation aus dem Blick geraten lässt. In meinem zweiten Schritt will ich kurz einen Versuch unternehmen, die konzeptuellen Ursachen für diesen Blindfleck zu identifizieren.

Der blinde Fleck gegenwärtiger Demokratietheorien
Fragt man sich, warum die heute vorherrschenden Demokratietheorien den herrschenden Arbeitsverhältnissen eine nur so geringe Beachtung schenken, so stößt man schnell auf eine konzeptuelle Einseitigkeit, die diese Vernachlässigung möglicherweise erklären kann. Die soziale Organisation der Arbeit wird normativ ausschließlich daraufhin befragt, ob sie in ausreichendem Maße die Gleichstellung aller Beschäftigten garantiert. Wird eine Person von ihrem öffentlichen oder privaten Arbeitgeber in dem Sinn diskriminiert, dass sie aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer kulturellen Zugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung einen vergleichsweise geringeren Lohn, einen vergleichsweise schlechteren Arbeitsplatz oder überhaupt keine Anstellung erhält, so muss dies als eine soziale Benachteiligung gelten, gegen die der Rechtsstaat einzugreifen aufgefordert ist. In dieser Gleichsetzung von sozialer Benachteiligung mit Ungleichbehandlung oder Diskriminierung verbirgt sich jedoch unmerklich die Annahme, die individuelle Chance zur demokratischen Beteiligung nur von der Stellung zu allen anderen Beteiligten im sozialen Gefüge abhängig zu machen. „Benachteiligt“ ist eine Person im demokratischen Prozess demnach immer nur dann, wenn sie im Vergleich mit anderen, als Standardfall geltenden Personengruppen in einer oder mehreren Hinsichten schlechter gestellt oder behandelt wird. Die einseitige Abhebung auf den Gleichheitsgrundsatz aber hat gerade mit Blick auf die Arbeitswelt höchst missliche Folgen. Denn hier mag es ja die Art der Arbeit selber sein oder die Höhe der Bezahlung als solche, unabhängig von jedem Vergleich mit anderen, die Ursache dafür sind, dass eine angemessene Beteiligung an der demokratischen Willensbildung nicht oder kaum möglich ist – und in der Idee eines „Minimaleinkommens“ blitzt deswegen ja auch die richtige Einsicht auf, dass das individuelle Erwerbseinkommen „absolut“, und nicht bloß „relativ“, zu gering sein kann, um sich an bestimmten, allgemein als wertvoll betrachteten Praktiken des sozialen Lebens zu beteiligen. In solchen Fällen geht es nicht darum, Diskriminierungen zu beseitigen, von denen andere nicht betroffen sind, sondern darum, einzelne Tätigkeitsbereiche oder arbeitsorganisatorische Gegebenheiten so zu verändern, dass die Beschäftigten überhaupt in die Lage versetzt werden, sich zwanglos am demokratischen Prozess der öffentlichen Beratung und Willensbildung zu beteiligen. 

Für Beteiligung braucht es eine Grundlage – sozial und finanziell


Gleichstellung und hinreichende Befähigung sind zwei normative Prinzipien, die höchst verschiedenen Registern angehören und daher sehr verschiedene Wahrnehmungen derselben sozialen Realität mit sich bringen können. Nimmt man das erste Prinzip in den Blick, so erschließen sich an der Vielzahl sozialer Benachteiligungen allein diejenigen, die in einer Schlechterstellung gegenüber anderen Personengruppen bestehen. Nimmt man hingegen das zweite Prinzip in den Blick, so fällt das Auge auf soziale Benachteiligungen, die in einer Lage unterhalb eines als absolut verstandenen Minimums bestehen. Zugunsten dieses zweiten Prinzips ließe sich auch sagen, dass es viel stärker darauf ankommt, ob ein Arbeitsplatz überhaupt die Mitwirkung an demokratischen Praktiken erlaubt, als darauf, wie dieser Arbeitsplatz relativ zu anderen beschaffen ist.

Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass das Prinzip der Gleichbehandlung ohne jede normative Relevanz für die Frage der Organisation von Arbeitsverhältnissen ist. Die Anwendung dieses Prinzips ist überall dort angebracht, wo sich eine Benachteiligung in Hinblick auf die Chancen demokratischer Beteiligung daraus ergibt, dass man aufgrund bestimmter Eigenschaften im Vergleich zu anderen Beschäftigten unverdiente Einbußen in der Höhe des Einkommens, in der Behandlung am Arbeitsplatz oder im Zugang zu bestimmten Berufen, Ämtern oder Positionen hinnehmen muss – und von solchen Formen der Diskriminierung gibt es nicht wenige in Gesellschaften, in denen die Hautfarbe, das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung weiterhin häufig Anlässe für Abwertung und Herabwürdigungen bilden. Aber diese Ungleichbehandlungen decken längst nicht das ganze Feld der Beeinträchtigungen ab, die jemand innerhalb der Arbeitswelt mit Bezug darauf erfahren kann, sich am demokratischen Prozess zwanglos und selbstbewusst beteiligen zu können. Wenn die Arbeit zu zermürbend ist, um sich Gedanken über politische Vorgänge machen zu können, wenn die Tätigkeit zu wenig Lohn einbringt, um ein Leben führen zu können, das Raum für politische Aktivitäten lässt, oder wenn die Abhängigkeit vom Vorgesetzten so groß ist, dass ständig Wohlverhalten demonstriert werden muss, so sind dies Beeinträchtigungen, die darin bestehen, über ein bestimmtes, für die demokratische Beteiligung benötigtes Minimum an erforderlichen Ressourcen und Befähigungen nicht zu verfügen. Schon die Verwendung der Finalkonstruktion „zu wenig, um“ oder „so groß, dass“ im vorangegangenen Satz macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um einen relationalen, sondern um einen absoluten Mangel an wertvollen Ressourcen oder Gütern handelt. Der blinde Fleck der gegenwärtigen Demokratietheorien besteht also darin, kein Auge dafür zu haben, dass die Arbeitsverhältnisse auch in einem absoluten, nicht bloß vergleichenden Sinn die Beschäftigten daran hindern können, ihre demokratischen Rechte angemessen wahrzunehmen.

Arbeit und demokratische Beteiligung
Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern die gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen die Chancen zur demokratischen Beteiligung beeinträchtigen können, bedarf es einer Veranschaulichung der Dimensionen, in denen der Charakter und die Organisationsform einer Arbeitstätigkeit die Fähigkeit zur demokratischen Mitwirkung beeinflussen kann. Die Facetten eines Arbeitsplatzes, auf die damit als Einflussfaktoren demokratischer Teilnahme verwiesen werden sollen, sind in der Reihenfolge, in der ich sie vorstellen werde, von ökonomischer, zeitlicher, psychologischer, sozialer und mentaler Art. Jede der fünf Dimensionen verweist auf Qualifikationen oder Ressourcen, über die in einem bestimmten Mindestmaß überhaupt zu verfügen weitaus wichtiger für den Zweck der demokratischen Beteiligung ist, als dass man davon im Vergleich mit anderen Beschäftigten jeweils mehr oder weniger besitzt:

a) Die Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung setzt zunächst und vor allem wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus. Jeder, der seinen Lebensunterhalt den der eigenen Kontrolle entzogenen Entscheidungen Anderer verdankt, wird sich willkürlich oder unwillkürlich primär mit dem Gedanken beschäftigen müssen, wie er oder sie sich zu verhalten hat, damit der stete Zufluss eines unterhaltssichernden Einkommens nicht abzureißen droht. Diese Präokkupation kann im eigenen Denken und Handeln einen so großen Umfang annehmen, dass kaum die Möglichkeit besteht, sich ohne ständigen Seitenblick auf die Erwartungen Dritter und damit frei von Sorgen um das eigene Wohlverhalten über die eigenen politischen Ziele Klarheit zu verschaffen. Wo eine derartige Abhängigkeit vorliegt, sind daher nicht die Bedingungen gegeben, um unbekümmert und selbstbestimmt an der öffentlichen Willensbildung teilzunehmen. Es fehlt an dem existentiellen Grundvertrauen auf eine gesicherte und sorgenfreie Zukunft, durch das man überhaupt erst in die Lage versetzt wird, sich über Alternativen in der politischen Gestaltung des eigenen Gemeinwesens Gedanken machen zu können.

b) Das Mitwirken an der demokratischen Willensbildung setzt zweitens immer aber auch, unabhängig davon, wie engagiert man sich daran zu beteiligen gewillt ist, ein gewisses Quantum an arbeitsfreier Zeit voraus. Denn um sich in die Rolle eines Teilnehmers oder einer Teilnehmerin an öffentlichen Diskussionen überhaupt nur hineinversetzen zu können, bedarf es einer Reihe von Operationen, die nicht ohne zeitlichen Aufwand sind. Das beginnt mit der Informationsbeschaffung, die notwendig ist, um sich überhaupt eine Meinung über ein fragliches Thema bilden zu können, setzt sich fort in der diskursiven Verarbeitung dieser Informationen im Austausch mit Anderen und endet mit der Stellungnahme in der Öffentlichkeit, die gewöhnlich die Form eines Wortbeitrags, der Teilnahme an einer politischen Demonstration oder der Mitwirkung in einer politischen Vereinigung annimmt.

Selbstachtung und Selbstwertgefühl als Voraussetzung politischer Beteiligung


Welche Zeit aber jemand zur Verfügung hat, um sich diesen verschiedenen politischen Aktivitäten widmen zu können, bemisst sich daran, welcher zeitliche Spielraum ihm neben der Arbeit und dem Privatleben übrig bleibt: Je größer die geistigen oder physischen Anstrengungen sind, welche die mit Arbeit verbrachte Zeit beansprucht, desto höher ist der Bedarf nach Muße und Entspannung und desto geringer ist mithin wiederum der Zeitraum, der für die verschiedenen Betätigungen in der demokratischen Öffentlichkeit genutzt werden kann. Fällt der verbleibende Rest unter eine gewisse, quantitativ kaum berechenbare Schwelle, so bleibt für ein derartiges Engagement keinerlei Zeit mehr übrig. Insofern bedarf es einer Einschränkung der Arbeitszeit jeweils in Abhängigkeit davon, wie zermürbend und kräftezehrend die zu leistende Arbeit ist, damit neben der Muße für das Privatleben auch eine genügend große Zeitspanne für das Engagement im politischen Raum verbleibt. 

c) Neben wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Zeit verlangt die Teilnahme an der demokratischen Öffentlichkeit drittens auch ein gewisses Maß an Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Ohne ein stabiles Vertrauen darauf, dass die eigenen politischen Äußerungen es wert sind, öffentlich gehört zu werden, mangelt es den Bürger*innen an der Courage, die es erfordert, sich an den demokratischen Auseinandersetzungen mit eigenen Beiträgen zu beteiligen. Will man nämlich zu einem beliebigen Thema von politischem Belang in aller Öffentlichkeit Stellung beziehen, so setzt das voraus, von den eigenen Meinungsbekundungen annehmen zu können, dass sie von den anderen Teilnehmenden für sinnvoll, zweckdienlich und bereichernd gehalten werden. Das Gefühl, in den Augen aller anderen Beteiligten als eine verlässliche Diskussionspartnerin zu gelten und von ihnen als eine solche anerkannt zu werden, entsteht aber nicht erst wie aus dem Nichts in den Foren der demokratischen Öffentlichkeit. Man betritt erst gar nicht die politische Bühne, wenn man nicht zuvor schon ein hinlängliches Vertrauen in den öffentlichen Wert der eigenen Stellungnahmen besitzt. Dieses epistemische Selbstvertrauen bildet sich in einer langen Vorgeschichte, deren Geschicke nicht zuletzt durch die Position im Netzwerk der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmt sind: 

Wer in seiner Arbeit keine soziale Anerkennung genießt, wer hier nicht als jemand gilt, der allgemein geschätzte Fähigkeiten beherrscht und damit einen sozial als wertvoll erachteten Beitrag erbringt, der wird auch nicht über das nötige Selbstwertgefühl verfügen, um ohne innere Bedrängnis und frei von epistemischen Selbstzweifeln in politischen Auseinandersetzungen seine Meinung kundzutun.

d) Viertens verlangt die Mitwirkung an der politischen Willensbildung neben wirtschaftlicher Unabhängigkeit, arbeitsfreier Zeit und eines stabilen, aus der öffentlichen Wertschätzung der eigenen Arbeit gewonnenen Selbstwertgefühls immer auch eine vorauslaufende Einübung in die Praktiken des demokratischen Zusammenwirkens. Damit ist hier mehr und anderes gemeint als die Ausstattung der abhängig Beschäftigten mit einer Verhandlungsmacht, die erforderlich ist, um die Festlegung der Konditionen der Arbeitsverträge nicht allein der Willkür derer überlassen zu müssen, die aufgrund ihres Eigentums an den Unternehmen über das größere Vermögen verfügen. Ein derartiges Mitbestimmen, das meistens indirekt durch Mitgliedschaft in einem Organ der gemeinsamen Interessenvertretung erfolgt, verschafft zwar ein basales Vertrauen darauf, den gegebenen Arbeitsverhältnissen nicht vollkommen hilflos ausgesetzt zu sein, trägt aber kaum zur Ausbildung von Gewohnheiten des demokratischen Zusammenhandelns bei. Nur derjenige wird jedoch ein Vertrauen auf den Ertrag und den Sinn demokratischer Verfahren entwickeln können, der auch schon während seiner täglichen Arbeit die Erfahrung macht, seine Absichten würden bei organisatorischen Entscheidungen über das Wie und Wozu der eigenen Tätigkeit irgendwie zählen und Berücksichtigung finden. Lernt man nicht schon in Unternehmen, Behörden oder Betrieben, dass das, was man mit Bezug auf die Arbeitsvorgänge und deren Ziel für richtig hält, von Relevanz für die organisationsinternen Beschlussfassungen ist, so wird man auch in den öffentlichen Zusammenhängen der politischen Willensbildung nicht auf die Wirksamkeit der eigenen Überzeugungen vertrauen können.

Aktiv in das politische Geschehen eingreifen


e) Eine fünfte Dimension, in der der Charakter des Arbeitsplatzes die Befähigung zur demokratischen Teilhabe in starkem Maße beeinflusst, bildet schließlich der Umfang und die intellektuelle Dichte der zu leistenden Tätigkeit. Damit ist ein Thema berührt, das die alten, sozialphilosophisch orientierten Theoretiker der Arbeitsteilung vordringlich beschäftigt hat. Schon zu Beginn des industriellen Zeitalters vermuteten Smith, Hegel und Durkheim, wie wir schlaglichtartig gesehen haben, einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Mechanisierung der Arbeit und einer Abnahme in der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Inzwischen haben eine Reihe von psychologischen und soziologischen Studien äußerst gut belegen können, dass dieser anfängliche Verdacht nicht vollkommen an den Haaren herbeigezogen war: Je eintöniger, intellektuell anspruchsloser und repetitiver die Arbeit ist, die jemand zu verrichten hat, desto eingeschränkter ist nach den Ergebnissen solcher Untersuchungen dessen Fähigkeit, aus eigener Kraft Initiativen zur Veränderung seiner Lebenslage und seiner gesellschaftlichen Umwelt zu ergreifen. 

Gemeint ist hier sicherlich nicht, dass die mit monotoner und simpler Arbeit befassten Beschäftigten zwangsläufig eine geringere Intelligenz und Auffassungsgabe besitzen als die mit komplexeren Aufgaben versehenen Arbeitskräfte. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sie durch den Gehalt und den Umfang ihrer Arbeitstätigkeiten hohe Einbußen an autonomer Gestaltungskraft, an Antrieb zu kreativem Handeln und an Gespür für ihre Selbstwirksamkeit hinnehmen müssen – so, als präge der kurz getaktete, gleichförmige und anregungsarme Rhythmus des Arbeitens nach einer gewissen Zeit auch den intellektuellen Habitus und das gesamte Verhältnis zur sozialen Umwelt. In Hinblick auf die Fähigkeit, an den Praktiken der demokratischen Willensbildung teilzunehmen, stellt diese Starrheit des eigenen Denkens und Handelns eine massive Beeinträchtigung dar. Die mangelnde Flexibilität, die Unfähigkeit, aktiv in das politische Geschehen einzugreifen, ist nicht selbstverschuldet oder Ausdruck fehlender Intelligenz. Sie ist der verinnerlichte und zur zweiten Natur gewordene Niederschlag einer Arbeitstätigkeit, die vor allem deswegen auf wenige Handgriffe und simple Verrichtungen reduziert worden ist, weil dadurch im Interesse an wirtschaftlichen Gewinnen Kosten und Zeit eingespart werden konnten.

Fünf Dimensionen als Scharnierstellen arbeitsorganisatorischer Verbesserungen


Eine Politik der Arbeit, die die Bedingungen demokratischer Beteiligung entscheidend verbessern möchte, muss alle diese fünf Dimensionen als Scharnierstellen arbeitsorganisatorischer Verbesserungen verstehen lernen; sie darf sich nicht auf das eine Ziel der Lohnerhöhung versteifen, sondern hat sich klar zu machen, dass es vier ebenso wichtige Ziele gibt, wenn die Kluft zwischen der Welt der gesellschaftlichen Arbeit und dem politischen Raum der demokratischen Willensbildung verringert werden soll.


Literatur
Durkheim, Emile (1992): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893), übersetzt von Ludwig Schmidts und Michael Schmid. Frankfurt/M. 
Hegel, G.W.F (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts (Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M., Bd. 7).
Honneth, Axel (2021): „Arbeit“. Kurzgeschichte eines modernen Begriffs, in: Lenz, Sarah/Hasenfratz, Martina (Hg.): Capitalism unbound. Ökonomie, Ökologie, Kultur. Frankfurt/M., S. 147–167.
Smith, Adam (2005): Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker (1776), übersetzt von Monika Streissler. Tübingen.


Zitation
Honneth, Axel (2022). Demokratie und Arbeit. Einige vorbereitende Überlegungen, in: Journal für politische Bildung 4/2022, S. 12-19, DOI https://doi.org/10.46499/1931.2555.

Der Autor

Dr. Axel Honneth war von 1996 bis 2015 Professor für Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., von 2001 bis 2018 Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS). Seit 2011 forscht und lehrt er an der Columbia University in New York.

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