Blühende Landschaften?

Wie hat sich die Landschaft der außerschulischen politischen Jugendbildung seit den 1990er Jahren entwickelt? Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gab es einen neuen Rahmen für die Gründung und Ausweitung von Initiativen, Einrichtungen und Verbänden sowie für die Entwicklung der Förderung. Als Antwort auf problematische gesellschaftliche Entwicklungen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Gewalt wurden neue Förderprogramme aufgelegt. Neue Organisationen entstanden, die Zivilgesellschaft sollte auf- und ausgebaut sowie Demokratie und Vielfalt gestärkt werden.

Die außerschulische politische Jugendbildung ist ein Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) mit einer vielfältigen, pluralen Struktur von Verbänden, Vereinen, Initiativen und weiteren Akteuren. Die Landschaft der politischen Jugendbildung ist von einem Mix an Akteuren geprägt, die zu einem großen Teil in der alten Bundesrepublik in der Nachkriegszeit im Kontext gesellschaftlicher Großorganisationen entstanden sind. Eine zweite Gründungsphase gab es in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Kontext neuer sozialer Bewegungen. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 entstand in den neuen Bundesländern ein Raum für die Herausbildung neuer Formen von Akteuren, gleichzeitig suchten Träger aus den alten Bundesländern dort Partner und/oder dehnten ihr Tätigkeitsfeld aus. Eine dritte Phase der Gründung neuer Akteure lässt sich ab den Nuller-Jahren konstatieren, als sich in Verbindung zugespitzter gesellschaftlicher Problemlagen (Gewalt, Rassismus, Rechtsextremismus) im gesamten Bundesgebiet neue zivilgesellschaftliche Initiativen bildeten.

Einige Faktoren dieser Entwicklungen werden in diesem Beitrag näher beleuchtet. Grundlage des Textes ist eine Expertise des Autors für die Kommission des 16. Kinder- und Jugendberichts (vgl. Waldmann 2020). Die Expertise konzentrierte sich auf die Entwicklungen der außerschulischen politischen Jugendbildung auf der Ebene des Bundes. Wie hat sich die Förderung politischer Jugendbildung im Kinder- und Jugendplan entwickelt? Welche neuen Förderschwerpunkte sind durch Modell-, Aktions- und Bundesprogramme gesetzt worden? Welche neuen Einrichtungen und Akteure haben sich etabliert, welche neuen Organisationstypen haben sich gebildet? Wie haben sich Prioritäten der Förderung verändert?

Bei der Frage nach Veränderungen in der Landschaft der politischen Bildung ist zu beachten, dass neben ihrer Förderung auf Bundesebene entsprechende Vorhaben auch auf Landes- und kommunaler Ebene gefördert werden. Die Trends auf kommunaler und auf Länderebene können nur im Kontext von Daten zu Entwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt interpretiert werden. Eine Sammlung und Auswertung dieser Daten war im Rahmen der Expertise nicht leistbar. Es ist jedoch grundsätzlich festzuhalten, dass die Datenbasis zur außerschulischen politischen Bildung nicht gerade überwältigend ist. Die Expertise basiert auf Angaben des Statistischen Bundesamts zur Kinder- und Jugendhilfe, den Einzelplänen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Bundeshaushalt für die Jahre 1989 bis 2019, der Auswertung von Projektberichten zu Bundesprogrammen und von Datenbanken. Die fachlichen Debatten zur politischen Jugendbildung, zu Konzepten, über inhaltliche Herausforderungen, methodische Ansätze und Formate oder die erreichten Zielgruppen usw. werden nicht berücksichtigt.

Zur Statistik der Kinder- und Jugendhilfe
Daten zur Entwicklung der politischen Jugendbildung sind in der Kinder- und Jugendhilfestatistik in den Angaben zur Gruppe „Einzel- und Gruppenhilfen und andere Aufgaben nach dem SGB VIII“ enthalten. Demnach sind die Ausgaben für dieses Handlungsfeld seit 1991 von 3,386 Mrd. Euro auf ca. 18,840 Mrd. im Jahr 2017 angestiegen. Dies entspricht einem Wachstum von ca. 456 %. In diesem Titel sind Ausgaben von rund 310 Mio. Euro im Jahr 1991 für Jugendarbeit ausgewiesen, die bis 2017 auf ca. 732 Mio. anwachsen, das entspricht einem Anstieg von ca. 136 %. Dieser Betrag enthält die Ausgaben für die außerschulische Jugendbildung, die bis zum Jahr 2008 von 84,5 Mio. Euro auf 149,5 Mio. Euro geklettert sind, was einem Wachstum von ca. 77 % entspricht. Ab dem Jahr 2009 werden die Ausgaben für die außerschulische Jugendbildung nicht mehr explizit ausgewiesen. Anzunehmen ist, dass der Trend dieser Ausgaben nicht erheblich von der Entwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit abweicht. Die Ausgaben für die außerschulische Jugendbildung haben signifikant geringer zugenommen als für andere Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe. Zudem ist der prozentuale Anteil der Ausgaben für Jugendarbeit an den Ausgaben für Einzel- und Gruppenhilfen von 9,17 % im Jahr 1991 auf 3,89 % im Jahr 2017 gravierend gesunken.

Auch die Veränderungen der Zahl der Einrichtungen und beim Personal lassen Rückschlüsse auf vorherrschende Trends zu. Hier ist wieder zu berücksichtigen, dass Daten zu Tendenzen in der politischen Jugendbildung nicht explizit ausgewiesen sind. Es sind lediglich Angaben zu den Jugendtagungs- und Jugendbildungsstätten zu finden, in denen üblicherweise Veranstaltungen der politischen Jugendbildung stattfinden. Die Zahl dieser Einrichtungen ist zwischen den Jahren 1990 und 2016 von 562 um mehr als die Hälfte auf 221 zurückgegangen.

Es überrascht nicht, dass die Angaben zu Beschäftigten in vergleichbarer Weise zurückgehen. Für das Jahr 1990 werden 4.205 Beschäftigte in diesen Einrichtungen genannt. Bis zum Jahr 2016 ist ein Rückgang beim angestellten Personal auf 2.222 zu registrieren (vgl. Waldmann 2020: 14). Die Auswirkungen dieser Veränderungen für einzelne Berufsgruppen in den Bildungsstätten können nicht differenziert analysiert werden, da in der Statistik nicht weiter unterschieden wird.

Sicherlich sind bei der Interpretation der Angaben zur Entwicklung der Bildungsstätten verschiedene Faktoren einzubeziehen: Haben sich Zeitbudgets von Jugendlichen verändert, sind neue Lernorte entdeckt worden, haben sich Bildungsinteressen verschoben? Aus vielen Diskussionen mit Trägern von Bildungsstätten ist jedoch bekannt, dass eine unzureichende öffentliche Förderung und die Kürzung von Eigenmitteln der Träger (Kirchen, Gewerkschaften, Vereine usw.) zur Schließung von Einrichtungen geführt haben. Erkennbar wird eine einschneidende Reduzierung der Gelegenheiten politischer Bildung für Jugendliche in dem hier betrachteten Zeitraum.

Politische Bildung im Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP)
Die Veränderungen der Förderung politischer Jugendbildung auf der Ebene des Bundes können zunächst an den Ansätzen in den Einzelplänen des BMFSFJ für das KJP-Programm „Politische Bildung“ nachvollzogen werden. Im Jahr 1989 sind in diesem Programm zur Förderung von Vorhaben und für Personal der politischen Jugendbildung insgesamt 9,742 Mio. Euro ausgegeben worden. Für das Jahr 1990 zeigen die Zahlen einen leichten Rückgang, während für 1991 im Kontext der deutsch-deutschen Vereinigung die Ausgaben erheblich auf 12,73 Mio. Euro erhöht wurden. Doch schon in den darauffolgenden Jahren stehen weniger Mittel zur Verfügung. Bis zum Jahr 2010 reduzieren sich die Zuwendungen für die politische Jugendbildung auf 9,115 Mio. Euro, das entspricht einer Kürzung zwischen 1991 und 2010 um 28,4 %. Zwischen 2010 und 2017 ist ein leichter Anstieg der Mittel für das Programm „Politische Bildung“ zu verzeichnen. Doch der Ansatz für dieses Programm liegt mit 9,48 Mio. Euro im Jahr 2017 immer noch leicht unter dem Niveau für 1989 mit 9,742 Mio. Erst für das Jahr 2021 erfolgte eine spürbare Erhöhung der Mittel um 3 Mio. Euro.

Aussagekräftig ist ein Vergleich zwischen der Entwicklung des Kinder- und Jugendplans im Zeitraum der Jahre von 1990 bis 2017 insgesamt im Verhältnis zur Ausstattung des Programms „Politische Bildung“ (siehe Abb. 2).

Bei der Bewertung der quantitativen Entwicklung des Programms „Politische Bildung“ ist zu berücksichtigen, dass diese Daten die Förderung der politischen Jugendbildung aus Mitteln des KJP nicht umfassend abbilden. Auch in anderen Programmen des KJP werden Angebote politischer Bildung unterstützt, z. B. im Rahmen der Jugendverbände, der Internationalen Jugendarbeit oder der Jugendsozialarbeit. Doch der jeweilige Anteil für politische Bildung wird dort statistisch nicht explizit ausgewiesen. Die Zahlen zeigen den Trend im einschlägigen Programm, das den Anspruch hat, eine bundesweite, vielfältige und leistungsfähige Infrastruktur der allgemeinen politischen Jugendbildung zu fördern.

Sonder-, Aktions- und Bundesprogramme
Schon während der 1990er Jahre wurden vom BMFSFJ verschiedene Sonder- und Aktionsprogramme aufgelegt, aus deren Mitteln auch Angebote der politischen Bildung gefördert wurden. Exemplarisch zu nennen sind das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG), das Sonderprogramm für den Aufbau freier Träger der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern (AFT-Programm) oder das Programm Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten (E&C). Ab 2001 wurde zunächst im Rahmen des KJP zum Thema „Gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ und später als eigenständiger Ansatz ein neuer Förderschwerpunkt der Demokratieförderung und Extremismusprävention eingerichtet. Im Jahr 2002 wurden diese Aktivitäten im Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus: ENTIMON – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ bundesweit und „CIVITAS – initiativ gegen Rechts­extremismus in den neuen Bundesländern“ gebündelt. Es schlossen sich die Programme „Vielfalt tut gut“, „kompetent.für demokratie“, „Toleranz Fördern – Demokratie stärken“ und schließlich ab 2015 „Demokratie leben!“ an. Im Zeitraum von 2001 bis 2019 standen für diese Programme insgesamt 740,453 Mio. Euro zur Verfügung (vgl. Tabelle 4 in Waldmann 2020: 39).


Strukturwandel des Fördersystems



Neben der Bereitstellung erheblicher Mittel ist förderpolitisch relevant, dass die Bundesprogramme für eine neue Form der Steuerung von Förderprogrammen des BMFSFJ durch Regiestellen stehen. Dieses neue Verfahren ist im Kontext der Prinzipien von Subsidiarität und Trägerautonomie im Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat durchaus kritisch zu bewerten.

In Verbindung mit der Implementation der Bundesprogramme sind weitreichende Veränderungen in der Landschaft der politischen Jugendbildung zu registrieren. So sind auf der Webseite des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ für den Förderzeitraum von 2015 bis 2019 insgesamt 254 Akteure aufgelistet, die aus Mitteln des Programms gefördert wurden. Berücksichtigt wurden Akteure der Förderlinien ‚Modellprojekte‘ und ‚Strukturentwicklung bundeszentraler Träger‘. Ca. 53 % der Akteure sind erkennbar Einrichtungen, die Angebote politischer Bildung realisieren (vgl. Waldmann 2020: 41). Bezogen auf den Gründungszeitpunkt ist festzustellen, dass ca. 25 % der Akteure vor 1990 gegründet worden sind, mehr als 20 % im Zeitraum von 1990 bis 1999, ca. 20 % in den Jahren 2000 bis 2009 und ca. 17 % erst nach 2010. Nach der Rechtsform sind drei Viertel der Organisationen eingetragene Vereine, 33 von 254 haben die Form einer gGmbH.

Nach Organisationstypen kann zwischen ‚zivilgesellschaftlichen Akteuren‘ und ‚Sozialunternehmen‘ differenziert werden. Sozialunter­neh­mer*innen sind Personen, „die aus ihrem individuellen bürgerschaftlichen Engagement heraus soziale Organisationen gründen, die gesellschaftliche Herausforderungen mit innovativen und unternehmerischen Herangehensweisen lösen“ (Deutscher Bundestag 2012: 2). Demnach kann ca. die Hälfte der geförderten Akteure als Sozial­unternehmen bezeichnet werden.

Resümee
Die Landschaft der politischen Jugendbildung ist seit dem Jahr 1990 deutlich vielfältiger geworden. Dies gilt insbesondere bezogen auf Akteure aus Migrant*innencommunities, aber auch in Hinblick auf eine Einbindung/Nicht-Einbindung von sozialen Milieus der Gesellschaft oder auf Organisationstypen. Gewachsen ist sicherlich auch die Pluralität der Konzepte und Ansätze der politischen Bildung. Zudem sind mit der steigenden Anzahl von Sozialunternehmen neue Akteure mit hoher Professionalität und spezialisierten Angeboten in das Handlungsfeld eingetreten.

Über den genannten Zeitraum hinweg ist weiterhin ein struktureller Wandel in Verfahren und System der Förderung politischer Jugendbildung zu registrieren. Die Förderung milieubezogener Akteure mit langjähriger Erfahrung und ausgewiesenen fachlichen Kompetenzen, die ein ausgeprägtes Verständnis von Subsidiarität haben, über eine klare Vorstellung von Trägerautonomie verfügen und sich als selbstbewusste zivilgesellschaftliche Partner von Ministerien verstehen (vgl. Widmaier 2020), ist in den zurückliegenden Jahren eingefroren worden. Demgegenüber sind die Mittel für die Demokratieförderung im Vergleich zum Ansatz der politischen Bildung im KJP exorbitant angestiegen. Dadurch sind die Akteure einer bundesweiten Infrastruktur der politischen Jugendbildung immer mehr in ein Schattendasein gedrängt worden. Um die Grundlagen einer „demokratischen Bildung im Kindes- und Jugendalter“ für die Zukunft wirklich verlässlich zu gestalten, ist hier dringend eine Trendumkehr erforderlich.

Literatur
Deutscher Bundestag (2012): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage: Förderung von Sozialunternehmen. BT-Drucksache 17/10926 vom 05.10.2012. 

Waldmann, Klaus (2020): Die Entwicklung der Landschaft der außerschulischen politischen Jugendbildung Deutschland seit 1990. München, https://tinyurl.com/2n2x36ne (abgerufen am 25.05.2021)

Widmaier, Benedikt (2020): „Freie Träger“ brauchen demokratische Freiheit!, in: Bade,Gesine/Henkel, Nicholas/Reef, Bernd (Hg.), Politische Bildung: vielfältig – kontrovers – global. Festschrift für Bernd Overwien, Frankfurt/M., S. 319–333.


Zitation:
Waldmann, Klaus (2021). Blühende Landschaften? Struktureller Wandel und Vielfalt in der Landschaft politischer Jugendbildung, in: Journal für politische Bildung 3/2021, 34-38, DOI https://doi.org/10.46499/1671.2096.

Der Autor

Klaus Waldmann ist leitender Redakteur des JOURNAL.

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