Schub ohne Richtung?

Versprochen, das C-Wort wird hier nur einmal fallen. Die Corona-Pandemie 2020/21 zwingt zweifelsohne dazu, neue Wege der politischen Bildung über digitale Medien zu erkunden. Doch ist die Pandemie eben nur Verstärker und – wenn es gut läuft – Katalysator: Die Krise legt lange vernachlässigte Baustellen offen und bietet zugleich die Chance zur Innovation. Die akuten Baustellen verdienen jetzt hohe Aufmerksamkeit, dazu gehören der unzureichende Zugang zu Hardware bei vielen Bildungsträgern und Jugendlichen, die Bereitstellung von datenschutzkonformen, funktionierenden Lern- und Kommunikationsplattformen und die nachholende Qualifizierung von Fachkräften zur Nutzung digitaler Tools. Sich damit Zeit zu lassen, hieße das Recht vieler Jugendlicher auf Bildung und Teilhabe zu gefährden. 


Und doch darf über die drängenden Probleme die Frage nicht aus dem Blick geraten, wie politische Bildung in einer Gesellschaft der fortschreitenden Digitalisierung konzeptionell und strukturell weiterentwickelt werden muss. Andernfalls droht ein Schub ohne Richtung. Aus einer Praxisperspektive der außerschulischen politischen Jugendbildung ist es unabdingbar, sich verstärkt der Frage digitaler Mündigkeit zu widmen und zugleich neue Strukturen für eine politische Bildung zu schaffen, die digitale Medien integriert und Expertise zu aktuellen Fragen der Digitalisierung bereithält.

Zwischen Überforderung und Innovation
In der außerschulischen politischen Jugendbildung mäandert das Thema „Digitalisierung“ seit mindestens zehn Jahren durch Fachtage und Projekte. Viele engagierte Kolleg*innen machen innovative Bildungsangebote und orientieren sich dabei immer wieder neu an technischen Entwicklungen, den sich verändernden Mediennutzungsgewohnheiten von Jugendlichen und damit einhergehenden gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Dennoch zeigt sich insgesamt eine Überforderung des Arbeitsfeldes, die darin besteht, Digitalisierung in ihren komplexen Wirkungen zu begreifen und daraus Schlussfolgerungen für die eigene Arbeit zu ziehen. Das ist angesichts der fundamentalen Umwälzung, die wir erleben, nicht überraschend.

In den Suchbewegungen der politischen Jugendbildung im zurückliegenden Jahrzehnt spiegeln sich die jeweiligen Diskurse mit ihren Zeitdiagnosen und Problembeschreibungen wie digitalen Partizipationsformen, Social Media als kreativem Ausdruckraum, Big Data und informationeller Selbstbestimmung. Auch aktuell mangelt es nicht an Herausforderungen, sei es mit Blick auf Künstliche Intelligenz oder die Verbreitung von Falschmeldungen, Hassrede und Verschwörungsideologien. Alternativ ließe sich mit Blick auf Plattformen und Tools eine dynamische Reiseroute der außerschulischen Bildung nachzeichnen. Wesentlicher als deren einzelne Etappen ist jedoch die Feststellung, dass auch die Themen und digitalen Medien, die wir heute als bedeutsam beschreiben, keinen stabilen Rahmen für die Ausrichtung der Arbeit in den kommenden Jahren bieten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass wir es mit einer auch weiterhin fortlaufenden Entwicklung zu tun haben, die Fachkräfte immer wieder zu einer Neuverortung zwingen wird.


Neues digitales Weltverhältnis



Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der 16. Kinder- und Jugendbericht dem Thema „Medien/Digitale Welten“ großen Raum gibt und grundlegende Herausforderungen für die politische Bildung herausarbeitet. So beschreibt die Kommission ein „neues digitales Weltverhältnis“, indem sie auf die „verschwindenden Unterschiede zwischen Online- und Offline-Existenz, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Umwelt und Vernetzung und zwischen Mensch und Maschine“ (BMFSFJ 2020: 303) hinweist. Digitalisierung dürfe daher nicht einfach als technische Entwicklung betrachtet werden, „die auf eine analoge Welt stößt und diese modifiziert“. Vielmehr bedürfe es einer tiefergehenden Analyse einschließlich der „Gesellschaftsstrukturen, die die Verbreitung digitaler Technologien überhaupt erst ermöglichen“ (ebd.: 293 f.). Die Handlungsempfehlungen zielen im Kern darauf, eine „politische Medienbildung“ zu entwickeln – ein Begriff, der wie auch andere Neuschöpfungen von „Bildung im Digitalen Wandel“ (werkstatt.bpb.de) bis „Digitale politische Bildung“ (vgl. Jantschek 2020: 64) bis auf Weiteres als Arbeitstitel gelten darf. Auf jeden Fall ist es kein Zufall, dass unter dieser Überschrift neben Aufgaben für die Träger, die Fachpraxis und die Wissenschaft der politischen Bildung auch so unterschiedliche Empfehlungen wie eine Ausweitung der Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für Jugendliche, die Entwicklung gemeinwohlorientierter Algorithmen oder die Verantwortung des Gesetzgebers bei der Kennzeichnung von Werbung und Produktplatzierungen auf YouTube benannt werden (vgl. BMFSFJ 2020: 326 f.).

Politische Bildung muss vernetzter werden
Politische Medienbildung ist zu verstehen als eine vernetzte bzw. vernetzt konzipierte politische Bildung. Zu ihren Gelingensbedingungen gehört auch die Schaffung von Ressourcen und Rahmenbedingungen außerhalb eines Arbeitsfeldes, das sich seiner (begrenzten) Möglichkeiten und seines spezifischen Handlungsauftrags bewusst ist. Aus diesem Befund ergeben sich für die Praxis der außerschulischen Jugendbildung zwei spannende, miteinander verbundene Fragen: Wie verortet sie sich mit ihren Angeboten in und gegenüber den digital erweiterten und sich dynamisch entwickelnden Lebenswelten? Und welchen Beitrag kann sie leisten, um Jugendlichen eine fundierte Auseinandersetzung mit den vielfältigen Fragen der Digitalisierung im Sinne einer politischen Bildung zu ermöglichen?

Mit Blick auf die Verortung stellt sich zunächst die Frage, welche digitalen Räume bespielt werden sollten. Mit der Nutzung von digitalen Medien bewegen sich die Träger der politischen Bildung aus selbst gestaltbaren Bildungssettings in technische Infrastrukturen, die von ihnen in der Regel kaum beeinflusst werden können. Der Kinder- und Jugendbericht verweist in diesem Zusammenhang auf ein Dilemma, das es zu reflektieren gilt: „Auf der einen Seite muss Kritik an Plattformen […] legitim sein, um einen radikalen netzkritischen Diskurs auf mehreren Ebenen führen zu können. Andererseits müssen die kritisierten Plattformen genutzt werden, um Zielgruppen zu erreichen, die dort aktiv sind und über andere Kanäle nicht angesprochen werden können. […] Daher sind affirmative und immersive […] Formate und Zugänge (über Influencerinnen und Influencer, Streaming-Formate, Social Media u. a.) notwendig, um neue Bildungsräume zu öffnen bzw. offenzuhalten“ (ebd.: 296). Politische Bildung, die sich in solche Räume begibt, nutzt also bewusst die großen privatwirtschaftlichen Plattformen und muss zugleich einen kritisch-reflektierten Umgang mit den dahinter liegenden Geschäftsmodellen des Datenkapitalismus und seinen Auswirkungen gewährleisten.


Webvideos allein sind noch keine politische Bildung



Die Frage nach der eigenen Verortung bezieht sich darüber hinaus auf das Rollenverständnis politischer Bildung im Zusammenspiel mit einem digitalen Umfeld, in dem es eine Vielzahl von professionellen und reichweitenstarken Akteuren an der Schnittstelle von Journalismus, Unterhaltung und Bildungsformaten gibt, die Inhalte zu gesellschaftspolitischen Fragen produzieren und digital verbreiten. Das Spektrum reicht von journalistischen Formaten wie etwa des öffentlich-rechtlichen Angebots FUNK über Satire- und Comedy-Formate bis hin zu YouTuber*innen, die politische Themen aufgreifen.

Nur wenige ressourcenstarke Akteure wie die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sind in der Lage, selbst Kooperationen mit bekannten Creator*innen auf Plattformen wie YouTube oder Instagram einzugehen und zum Beispiel aufwändige Webvideos produzieren zu lassen (vgl. den Beitrag von Flümann/Jamal in diesem Journal). Das sollte allerdings auch kleinere Träger nicht davon abhalten, selbst Videos und Podcasts zu erstellen, wie z. B. die Video-Reihe der Evangelischen Akademie Frankfurt zu #BlackLivesMatter (vgl. et 2020). Es lohnt sich, weitere Schritte in diese Richtung zu gehen, weil YouTube bereits als Ort für informelle Bildungsprozesse etabliert ist und Jugendliche sich dort in und zwischen unterhaltsamen Formaten Wissen aneignen und mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzen. Jedoch ist auch hier zu reflektieren, mit welcher Haltung sich politische Bildung auf einer Plattform wie YouTube verortet und wie sie den eigenen Ansprüchen nach Diskursivität und Partizipation gerecht werden kann.

Umso wichtiger ist es, dass Projekte, in denen gezielt Inhalte für die politische Bildung erarbeitet werden, zukünftig nicht ohne eine Verzahnung mit der Praxis erfolgen. Selbst ein noch so gut produziertes Webvideo ist noch keine politische Bildung und stellt eine große Herausforderung an die Eigenverantwortung der Lernenden dar. Deswegen bedarf es auch weiterhin eigener Lernräume, in denen die Inhalte kritisch reflektiert, eigene Anliegen entwickelt, kontroverse Positionen verhandelt und Lösungen diskutiert werden können. Formate und Methoden, die eine solche weitergehende Reflektion ermöglichen, sollten daher bereits bei der Produktion von digitalen Inhalten bedacht und partnerschaftlich mit Fachkräften der außerschulischen Bildung entwickelt werden.

Eine weitere Perspektive der Verortung bezieht sich auf Akteure der digitalen Zivilgesellschaft, also Initiativen und Plattformen, die sich zum Beispiel auf Themen wie digitale Bürgerrechte, Netzpolitik, das Aufdecken von Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen oder digitale Zivilcourage und Gegenrede spezialisiert haben. Auch diese können mit ihrer Expertise und ihren praktischen Erfahrungen in Angebote der politischen Jugendbildung eingebunden werden, um beispielsweise konkrete Handlungsmöglichkeiten zum Überprüfen von Informationen oder zum Umgang mit Demokratiefeindlichkeit, Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in digitalen Medien aufzuzeigen. Umgekehrt gilt aber auch hier: Online-Aktivismus allein ist noch keine politische Bildung.

Das Ziel: Mündigkeit in einer digitalen Gesellschaft
Diese allenfalls beispielhaften Perspektiven verdeutlichen die Potenziale professionsübergreifender Kooperationen. Die außerschulische politische Jugendbildung muss sich dabei aber ihres spezifischen Auftrags bewusst sein. Ihr Ziel bleibt die Förderung von Mündigkeit, auch in einer digitalen Gesellschaft. Es gilt, Räume zu schaffen, in denen sich die Teilnehmenden kritisch mit den derzeitigen Transformationsprozessen auseinandersetzen, dazu eigene Positionen klären und gemeinsam mit anderen Handlungsoptionen entwickeln können.

Dies kann, wie aktuelle Beispiele aus der Arbeit der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) zeigen, in ganz unterschiedlichen Formaten und Methoden geschehen, seien sie rein digital, hybrid oder analog. Die Nutzung vielfältiger digitaler Tools und Plattformen bereichert die politische Jugendbildung, setzt Kreativität frei und schafft neue Lernräume. Sie ersetzt aber nicht Präsenzformate, sondern ergänzt und erweitert diese. Dabei können Ansätze des Game-based Learning gewinnbringend sein, da sie einen niedrigschwelligen und erfahrungsorientierten Einstieg ermöglichen. Bspw. ist in jüngster Zeit in der et ein Escape Game zur digitalen Zukunft entstanden: „General Solutions“ dreht sich um die Themen Big Data, Informationelle Selbstbestimmung und Social Scoring. Auch gibt es mittlerweile das on- und offline durchführbare Videoplanspiel „Klamottenkiste“ zu Respekt in digitalen Medien, das einen Vorfall in einem WhatsApp-Klassenchat thematisiert. Auch ist ein interaktives Spiel auf Instagram zum Umgang mit Falschmeldungen entstanden – das Spiel #Instaheroes befindet sich derzeit in der Testphase (vgl. et 2021). Die Beispiele zeigen, dass die außerschulische Bildung zeitgemäße Formate und Methoden entwickeln kann. Wirkungsvoll werden solche Entwicklungen vor allem dann, wenn sich Träger der außerschulischen Bildung vernetzen, ihre Erfahrungen teilen und Formate multiplizieren.


Potenziale professionsüber­greifender Kooperationen



Das Arbeitsfeld der politischen Jugendbildung sollte einerseits selbstbewusst die eigene Fachlichkeit einbringen, wenn es darum geht, tiefergehende Reflexionsprozesse zu ermöglichen, die für politische Bildung konstitutiv sind. Andererseits gehört zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme auch die Einsicht, dass gelingende politische Bildung unter digitalen Vorzeichen die Ressourcen einzelner Träger übersteigt und damit einen verstärkten Austausch und trägerübergreifende Ansätze notwendig macht. Dazu sollten sich alle Beteiligten an einer Kultur des Teilens, Lernens und Vernetzt-Arbeitens orientieren, die sich nicht zuletzt ganz praktisch darin äußern könnte, sämtliche Neuentwicklungen unter offenen Lizenzen als Open Edu­cational Ressources (OER) zu veröffentlichen. Positiv hervorzuheben sind auch Projekte, die auf die Sammlung und Verbreitung von Methoden und praktischen Erfahrungen im Arbeitsfeld der außerschulischen Bildung hinwirken, wie z. B. die werkstatt.bpb.de, politischbilden.de oder die Online-Bibliothek auf ufuq.de.

Literatur
BMFSFJ (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin.

Evangelische Trägergruppe für gesellschafts­politische Jugendbildung (et) (2020): Projekt „Alles Glaubenssache?“ #BlackLivesMatter, www.politische-jugendbildung-et.de/projekt/blacklivesmatter/

Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) (2021): #etpraxistools, www.politische-jugendbildung-et.de/materialien/praxistools/

Jantschek, Ole (2020): Digitale politische Bildung. Herausforderungen und Dynamiken während der Corona-Pandemie. In: Ders./Lorenzen, Hanna (Hg.): Don’t panic, act now. Beteiligung und Demokratie in der politischen Jugendbildung. Berlin, S. 62–67.


Zitation:
Jantschek, Ole (2021). Schub ohne Richtung? Auftrag und Verortung digitaler politischer Bildung, in: Journal für politische Bildung 2/2021, 38-43, DOI https://doi.org/10.46499/1670.1955.

Der Autor

Ole Jantschek, M. A., ist aktuell Bundestutor der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugend­bildung (et) in Berlin und Mitglied der Journal-Redaktion.

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