1968 und Frauen in der politischen Bildung

1968 und die Frauen – das ist ein besonderes Kapitel, selbst ohne den Appendix „Bewegung“. Und in Bewegung war ja viel, damals vor 50 Jahren. Wenn heute an dieses Datum erinnert wird, wenn danach gefragt wird, was gewollt war und was geblieben ist, dann konzentriert sich der Blick auf Folgeerscheinungen dieses Aufbruchs, auf kulturelle, auch politische Veränderungen, auf Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung.


1968 ist noch immer ein Reizwort, auch nach einem halben Jahrhundert ein Kampfbegriff. Eine Art Lackmustest, was unter Demokratie verstanden wird und wie belastbar Willy Brandts berühmte Aufforderung ist, „Mehr Demokratie [zu] wagen“. In dieser Jahreszahl sind Entwicklungen aus der Zeit vor 1968 gebündelt und Folgen vorweggenommen. 1968 war eine Jugendbewegung, im westlichen Deutschland der lautstarke Protest vor allem der akademischen Jugend der 60er Jahre gegen eine verkrustete, als bigott wahrgenommene Gesellschaft, die in ihrer Verweigerung, historische Schuld zu verantworten, ihre Glaubwürdigkeit und damit auch ihre Autorität verloren hatte.

1968 war eine internationale Jugendbewegung, die in den USA gegen den Vietnamkrieg und Rassenpolitik mobil machte und in Frankreich gegen die Folgen von Kolonialpolitik und sozialer Ungerechtigkeit. Allen gemeinsam war der Aufbruch, der emanzipatorische Impetus; die Forderung, Demokratie neu zu interpretieren; verbriefte und nie eingelöste Rechte und Teilhabe einzufordern; Diskriminierung zu überwinden. Die Versprechen gab es ja, beginnend mit den Schlagworten der Französischen Revolution bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Und hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht eine Verfassung, die es ernst zu nehmen galt, die aber unübersehbar und zu oft nicht ernst genommen wurde? Wie stand es um den Unterschied von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit bei Artikel 3 des Grundgesetzes: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“? Erst die Verfassungsreform 1994 nach der Wiedervereinigung ergänzte nach zähen Kämpfen und aus gegebenem Anlass den Artikel um den Satz: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Wie also haben die jungen Frauen der 68er-Generation zu einer, zu ihrer eigenen Stimme gefunden und ihre eigene Agenda entwickelt? Wie sahen die Anfänge dieser neuen „Frauenbewegung“ aus? Auf welche gesellschaftlichen Strukturen und Zwänge reagierten sie? Was wollten sie und auf wen beriefen sie sich? Nicht zufällig sind aus den Utopien und politischen Forderungen dieser Generation ja damals Bewegungen entstanden, die Antworten geben wollten auf die großen Fragen der Zeit. Die Ökologiebewegung – spätestens nach der Erschütterung durch Tschernobyl – fragte, wie mit den Ressourcen unserer Welt umzugehen ist. Die Friedensbewegung suchte Auswege aus dem Overkill des Kalten Krieges. Und die Frauenbewegung?


Frauen waren im Aufbruch. Wir waren im Aufbruch. Wir wollten Veränderung und vertrauten darauf, dass sie gelingen kann



In der Regel waren engagierte Frauen auch in den genannten Bewegungen aktiv. Zumindest teilten sie die Analysen und sympathisierten mit den Zielen. Die „monströse Bösartigkeit der Fakten unserer Zeit“ (Thürmer-Rohr 1987a: 23) konnte uns Frauen nicht unbeteiligt lassen, was die eigenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen natürlich einschloss. Wer erinnert sich, dass noch Ende der 60er Jahre eine Frau ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht arbeiten durfte, und wenn, dann nur, wenn sie eine „geordnete Haushaltsführung“ sicherstellen konnte? In den fortschrittlichen Zirkeln der Studentenbewegung waren die Studentinnen der berühmte „Nebenwiderspruch“. Der § 218, der so genannte Abtreibungsparagraph, löste Massendemonstrationen von Frauen aus allen Bevölkerungsschichten aus. Gleichzeitig lasen die Frauen Betty Friedans „Der Weiblichkeitswahn“ und verschlangen Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“: Die Frau wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht. 1975 wurde von den Vereinten Nationen das „Internationale Jahr der Frau“ ausgerufen, und im selben Jahr fand auch die erste von den UN organisierte Weltfrauenkonferenz in Mexiko statt.

Frauenbewegung trifft politische Bildung
Frauen waren im Aufbruch. Wir waren im Aufbruch. Wir wollten Veränderung und vertrauten darauf, dass sie gelingen kann. 1977 wurde die erste feministische Volkshochschule gegründet, in Freiburg, Hochburg der Proteste gegen das Atomkraftwerk Wyhl.

Ich gehöre dieser Generation an. Ich wurde noch im Zweiten Weltkrieg geboren und studierte in den 60ern. Nach einem Intermezzo in der Entwicklungshilfe wurde ich 1975 Referentin für Kommissionen und Internationale Bildungsarbeit im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB), einem Dachverband der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, dessen Mitglieder ein politisch heterogenes Spektrum vertreten. 1975 waren seit Gründung des Verbandes 16 Jahre vergangen. Es hatte aufmüpfige Initiativen gegeben, vor allem der Jugendbildungsreferenten, die die emanzipatorischen Ideen der Studentenbewegung in die politische Jugendbildung bringen wollten. Die Auseinandersetzungen im Verband waren erbittert. Um die Diskriminierung von Mädchen und Frauen, um Gleichstellungsfragen ging es dabei nicht. Als ich im Frühjahr 1975 anfing, schien zwischen den umkämpften politischen Positionen ein modus vivendi gefunden zu sein, der sich eher an einer affirmativen politischen Bildung orientierte.

Die Geschäftsstelle war klein, hatte aber seit 1974/75 eine besondere Zusammensetzung: eine Geschäftsführerin (mit einem Sekretär!), eine Redakteurin für die Fachzeitschrift „Außerschulische Bildung“ und die Referentin für Kommissionen und Internationale Bildungsarbeit. Hinzu kam der Tutor für die Jugendbildungsreferenten. Kurz, drei Frauen und ein Mann hatten Verbandspolitik und Bildungsarbeit umzusetzen. Ich erinnere mich an das Lob des damaligen Vorstandes. Die gute Stimmung wurde hervorgehoben, die seit der Einstellung der Frauen herrsche. Es war offensichtlich, dass von uns Frauen erwartet wurde, fleißig und ohne Fragen zu funktionieren; hübsch durften wir sein und wenn nötig auch klug, aber ganz gewiss nicht mit eigenem Kopf.

Den hatten wir aber. Wenn von Mädchen- und Frauenbildungsarbeit die Rede ist, dann hätte es sie zumindest im AdB auf Verbandsebene ohne dieses Trio nicht so viele Jahre gegeben. Wer hatte schon im Kopf, dass unsere Geschäftsführerin ein Buch über die Emanzipation der Frau (vgl. Merfeld 1972) geschrieben hatte? Und dass wir uns immer aufeinander verlassen konnten?

In vielen Jugendbildungsstätten wurde in den 1970ern pädagogisch experimentiert. Mädchen- und Frauenprojekte schossen wie Pilze aus dem Boden, verstanden sich als Orte mit neuen Formen der Kommunikation, der methodischen Experimente. 1979 wurde die Kommission für Mädchen- und Frauenbildungsarbeit gegründet, allerdings gegen den Widerstand einer Mehrheit im AdB, aber mit einer knappen Mehrheit im Vorstand. Junge Pädagoginnen aus den Bildungsstätten wollten die Verbandswelt verändern.


Hübsch durften wir sein und wenn nötig auch klug, aber ganz gewiss nicht mit eigenem Kopf



Das konnte natürlich nicht sein. Es gab nur eine weibliche Stimme im Vorstand. Der Beschluss war Folge einer Jahrestagung, auf der es um Bildungskonzepte für lernbenachteiligte und lernbehinderte Gruppen ging und auf der Frauen als defizitäre Wesen entdeckt wurden. Dass diesem Umstand mit besonderen pädagogischen Bemühungen um weibliche Zielgruppen begegnet werden müsse, leuchtete auch den männlichen Verbandsrepräsentanten ein. Aber die Zustimmung zu Fortbildungsseminaren war nicht genug für die Pädagoginnen. Sie wollten keine Spielwiese, keine Reduzierung auf die Defizite, keine „Angleichung an die Mannesstellung“, wie es im Grundgesetz formuliert war. Die Frauen im AdB wollten die paritätische Besetzung von Stellen, die gezielte Förderung von Frauenseminaren in den Bildungsstätten, gemeinsame Fortbildung und ein eigenes Gremium auf Verbandsebene, in dem die Rolle der Frau als Pädagogin neu gedacht, neue Wege für Mädchen und Frauen gefunden und erprobt werden sollten. Die Frauen im AdB wollten sich nicht an Defiziten orientieren und sich von ihnen lähmen lassen, sondern eigene, unentdeckte Stärken entwickeln und behaupten. Dass es unter diesen Vorzeichen schließlich doch zur Gründung der Kommission kam und zu jährlichen Fortbildungsseminaren („feministische Zwangsschulungen“ wurden sie in vorauseilendem Spott von den Frauen genannt), war letztlich dem schlechten Gewissen der männlichen Verbandsmehrheit zu verdanken und wurde von ihrem Unbehagen begleitet.

Es war auch für die Frauen keine leichte Situation. Oft war das politische Selbstverständnis ihrer Einrichtungen nicht mit ihren feministischen Ambitionen vereinbar. Die Verbindung zur autonomen Frauenbewegung wurde gesucht, auch wenn diese Zuordnung häufig eine Selbstetikettierung war und wenig über deren organisatorische Zusammenhänge klären konnte. Aber die feministischen Diskurse und Themen der in den 80ern neu gegründeten Frauenforschung bestimmten auch uns, hatten Einfluss auf pädagogische Konzepte und die Inhalte unserer Kommunikation.

Die Vorbehalte blieben. Die „Frauenkommission“ und ihre Fortbildungsseminare waren immer wieder Gegenstand verbandspolitischer Auseinandersetzungen. Sie wurden kritischer beäugt. Aktivitäten, Forderungen, Empfehlungen der Frauenkommission waren sorgfältiger zu begründen und schwieriger zu legitimieren als andere verbandspolitische Aktivitäten. Die Argumente mussten unangreifbar sein, die Form untadelig. Vor allem die Weigerung, Männer aufzunehmen, blieb umstritten. Ein Affront in einem Verband, in dem 1987, fast zehn Jahre nach dem „feministischen Aufbruch“, erstmals drei Frauen in den Vorstand gewählt wurden. Hatten die Frauen damals nicht die berühmte Hälfte des Verbandshimmels für sich gefordert? Noch 1999 wurden von 114 Bildungseinrichtungen im AdB nur 22 von Frauen vertreten.

Es galt, die Mühen der Ebene zu bewältigen. Frauen waren damals häufig ehrenamtlich oder als Honorarkräfte in der politischen Bildung aktiv, seltener als hauptamtliche pädagogische Mitarbeiterinnen. Die wenigen hauptamtlichen Frauen im AdB wollten nicht nur pädagogische Konzepte für eine eigenständige Mädchen- und Frauenbildung; sie wollten die Geschlechterfrage in den verbandspolitischen Diskurs einbringen, Diskriminierung bekämpfen und ihre Position verbessern. Es gab un­übersehbar immer wieder, immer noch – auch in der politischen Bildung, nicht nur in der Gesellschaft im Allgemeinen – eine strukturelle Benachteiligung von Mädchen und Frauen, die es gegen zähe Widerstände zu überwinden galt. Erst 2001 beschloss die Mitgliederversammlung des AdB geschlechterdemokratische Prinzipien auf allen Ebenen des Verbandes umzusetzen. Das wurde übrigens keineswegs widerspruchslos hingenommen. Damals machte ein Wort Gerhard Schröders die Runde: das „Gedöns“ – also nicht wichtig, überflüssig, mit langen Zähnen in die politische Agenda einzubauen. Ohne die europäische Vorgabe des Gender Main­streaming wäre der Beschluss wohl kaum zustande gekommen. Ich erinnere mich noch an das Murren angesichts dieses Wortungeheuers.

Dennoch waren bereits in den 80ern auch die Veränderungen unübersehbar. Der 6. Jugendbericht der Bundesregierung von 1984 hatte sich die „Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen“ zum Ziel gesetzt. Immer mehr Bildungsstätten förderten und praktizierten die so genannte „geschlechtsspezifische Bildungsarbeit“. Für Mädchen- (bildungs)arbeit wurden Stellen geschaffen, häufig als ABM, als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“. In der Erwachsenbildung waren „Frauenseminare“ gefragt. Das überzeugte auch verbandsintern viele, die sich dem emanzipatorischen Aufbruch der Pädagoginnen eher widersetzt und ihn mit Skepsis begleitet hatten. Die Nachfrage sicherte den Erfolg. So manche Bildungsstätte teilte zwar nur halbherzig das Anliegen der Frauen, war aber großherzig bereit die Themen aufzugreifen, wenn sich auf diese Weise das Haus füllen ließ. Die Dialektik der Entwicklung führte dazu, dass häufig aus der Halbherzigkeit echte Beteiligung entstand.


Können wir durch Koopera­tionen und Begegnungen dazu beitragen, diskriminierende Strukturen zu überwinden?



Im AdB waren ja, daran ist zu erinnern, sehr unterschiedliche politische Überzeugungen versammelt. Das Werben um Verbündete war für die Frauen eben nicht nur taktisch, sondern musste auch inhaltlich überzeugen. Immer wieder wurde hinterfragt, ob sich „Parteilichkeit“ für Mädchen und Frauen mit der verbandspolitischen Pluralität vereinbaren lässt. Ob der „weibliche“ Blick, die frauenspezifische Fragestellung, nicht tückisch in die Sackgasse pädagogischer Indoktrinierung führen. Gleichwohl waren spätestens in den 90er Jahren Mädchen- und Frauenseminare selbstverständlich geworden und gehörten fest ins Programmangebot. Das wirklich unschöne Wort „geschlechtsspezifisch“ hatte sich in pädagogischen Konzepten und bildungspolitischen Diskussionen durchgesetzt. Es gab zarte Ansätze, das „Geschlechtsspezifische“ auch für Jungen und Männer neu zu bedenken und Versuche, aus der Enge der männlichen Rollenzuschreibungen auszubrechen. Eine Breitenwirkung hatten diese Experimente nicht.

Ob gezielt oder nolens volens: Die pädagogische Praxis von Mädchen- und Frauenbildung hatte die politische Bildung verändert. Es waren die Jahre der erfolgreichen verbandsinternen Fortbildung. Die Frauenseminare des AdB, von der Kommission jährlich konzipiert für alle weiblichen Fachkräfte des Verbandes, waren ungewöhnliche Seminare mit wichtigen, manchmal aufregenden Themen, klugen Fachfrauen, methodischen Neuerungen und Experimenten. Sie qualifizierten Frauen für ihre berufliche Praxis, bestärkten sie aber auch in ihrer weiblichen „Parteilichkeit“, festigten die Verbindungen untereinander und verstanden sich als Brücke zur autonomen Frauenbewegung.

Die Themen der Fortbildungsseminare sind ein Rückblick auf das, was uns bewegt hat. Sie spiegelten (auch) die feministischen Diskurse der 80er Jahre und folgten dem Prinzip, Erkenntnis nicht folgenlos zu lassen, sondern mit Handeln zu verknüpfen.

Wir lernten Selbstverständliches zu hinterfragen und uns frei nach Immanuel Kant unseres eigenen Verstandes zu bedienen in den Seminaren über Matriarchate, über Frauen und verbotene Räume, über die Rolle von Frauen in kriegerischen Zeiten, über normstiftende, aber auch befreiende Rituale. Wir versuchten die Frage einer spezifischen „Frauenkultur“ zu beantworten und gingen dem ambivalenten Verhältnis von „Frauen und Macht“ und dem ebenso ambivalenten Verhältnis von „Frauen und Geld“ nach. Wir wollten ein Lernen mit offenem Ausgang zulassen. Die eigene Rolle hat uns mehr beschäftigt als die Rolle des Patriarchats. Die von Christina Thürmer-Rohr entwickelte Theorie der Mittäterschaft (vgl. 2004) hatte einen wichtigen Platz in unseren Diskussionen. Sie stellt das auch unter Feministinnen damals gängige Bild von der Frau als Opfer infrage und fahndet nach den eigenen Anteilen. Sie beschreibt Komplizenschaft und hält damit allen illusionären Identitäten den Spiegel vor, ohne zu denunzieren. Es gibt nicht einen Feminismus, sondern verschiedene Wege, quer zu allen Kategorisierungen. Judith Butler hat sich später jeder Kategorisierung verweigert. Ihre Dekonstruktion von sex und gender eröffnet Spielräume für die Erprobung von alternativen Geschlechtsidentitäten und wendet sich gegen ihre Festlegung.

Grenzgängerinnen
Der feministische Diskurs um weibliche Identitäten erwies sich nicht als „abgehoben“. Seine Erkenntnisse hatten viel ins Rollen gebracht und durchaus praktische Folgen für die Bildungsarbeit. Die Benachteiligung von Mädchen und Frauen war ein Politikum, aber politisches Bewusstsein für die nötigen besseren Bedingungen gab ja keine Antwort auf das Problem der eigenen Widersprüchlichkeiten und der eigenen Verortung. Die Auseinandersetzung um weibliche Identitäten war deshalb eine Chance, die eigenen Ideen und Utopien zu überprüfen. Das war umso notwendiger, als nach der Wiedervereinigung westdeutscher Feminismus und ostdeutsches Emanzipations(selbst)verständnis aufeinanderstießen. Außerdem war in unseren Seminaren und Workshops die Zahl der Teilnehmerinnen mit „Migrationshintergrund“ gewachsen. Der Bedarf an interkulturellen Kompetenzen war unübersehbar. Die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen Wurzeln, mit ihrem Verständnis von weiblicher Identität schien uns dringend geboten.

Das war nicht der Einstieg, aber die Bestärkung für internationale Projekte, die in und mit der Kommission entwickelt wurden. Wir wollten uns einen Überblick verschaffen. Werden unsere Erwartungen jenseits der Grenzen geteilt? Unsere Hoffnungen auf Verhältnisse ohne Geschlechterdiskriminierung unterstützt? Können wir durch Kooperationen und Begegnungen dazu beitragen, diskriminierende Strukturen zu überwinden? Internationale, europäische Vernetzung schien uns gerade auch aus deutscher Sicht notwendig mit Blick auf die Internationalisierung im eigenen Land. 1992 gab es in Berlin ein vom AdB organisiertes erstes Treffen von Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aus Spanien nach der Franco-Diktatur, aus Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten sowie der ehemaligen DDR, kurz: ein Treffen von westdeutschen Pädagoginnen, die sich als Aktivistinnen der Frauenbewegung verstanden, und Aktivistinnen aus Staaten nach politischen Umbrüchen. Hatten die Umbrüche den Frauen etwas gebracht? Der Titel drückte Skepsis aus: „Kein Ort – wirklich nirgends? Über neue Gesellschaften und alte Verhältnisse“. Wie sich herausstellen sollte, gab es gute Gründe für die Skepsis und deshalb ebenso gute Gründe, eine gemeinsame Basis für grenzüberschreitende Projekte auszuloten.


Die Welt ist nicht freundlicher geworden. Sie braucht unsere Einmischung



Es war der Beginn einer Reihe von deutsch-spanischen Frauenseminaren, der Einstieg für ein deutsch-russisch-litauisches Projekt zum Aufbau von Mädchenarbeit, das 1996 nach 22 Seminaren abgeschlossen wurde. Mehr als zehn Jahre hat die Kommission mit der „Bewegung der Frauen Russlands“ zusammengearbeitet, deren Aktivistinnen aus allen Teilen Russlands jährlich zu einer Fortbildung nach Deutschland kamen. Projekte für pädagogische Fachkräfte mit der Mongolei und Russland beinhalteten immer auch Mädchen- und Frauenbildung.

Schließlich trafen sich am 10. Dezember 1998, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Deklaration der Menschenrechte, in Würzburg 23 Frauen aus West- und Ostdeutschland, aus Israel und den palästinensischen Gebieten, um ein Netzwerk aufzubauen zur „Sicherung von Frauen- und Menschenrechten“, das als loser Zusammenhang bis heute existiert. Wir waren der Überzeugung, oder besser: wir haben uns im Laufe der Jahre miteinander und wechselseitig davon überzeugt, dass für Demokratieentwicklung und Konflikttransformation im Nahen Osten nur ein auf Langfristigkeit und substantielle Beziehungen ausgerichtetes Konzept Wirkung hat. Wenn die Gewalt ein Ende hat – auf Dauer ist das politisch zwingend, auch wenn aktuell nichts darauf hinweist – dann braucht es Menschen in der Region, die das Vakuum füllen. Die wissen und erfahren haben, dass Frieden der Ernstfall ist. Die Brücken gebaut haben, über die auch weniger Mutige gehen können. Sie bauen jetzt das Fundament für einen Frieden, dem die Politik zwar einen institutionellen Rahmen geben, den sie aber nicht verwurzeln und mit gesellschaftlichem Leben füllen kann.

Mädchen- und Frauenbildung mit emanzipatorischem Selbstverständnis haben heute ihren festen Platz in der politischen Bildung, auch wenn sich Organisationsformen ändern. Eine Kommission für Mädchen- und Frauenbildung gibt es nicht mehr im AdB. Aber Vorsicht ist angebracht: Wir leben in einer Zeit rechtsradikaler Tabubrüche, die beängstigend viel Zuspruch finden. Sie folgen einem Verständnis von Welt, das einteilt in Freund und Feind, wir und die Fremden, oben und unten, das ausgrenzt und brandmarkt. Es ist (auch) ein Frontalangriff auf uns Frauen. Wir müssen uns stellen. Das sollten wir doch gelernt haben in den vergangenen Jahrzehnten und damit auch jungen Frauen Mut machen. Dafür aber müssen wir selbst aufstehen, „unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft“ (Türmer-Rohr 1987b: 39 f.). Die Welt ist nicht freundlicher geworden. Sie braucht unsere Einmischung. 


Literatur
Merfeld, Mechthild (1972): Die Emanzipation der Frau in der sozialistischen Theorie und Praxis. Reinbek.

Thürmer-Rohr, Christina (1987a): Abscheu vor dem Paradies. In: Dies.: Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin, S. 21 – 37.

Thürmer-Rohr, Christina (1987b): Aus der Täuschung in die Ent-Täuschung. Zur Mittäterschaft von Frauen. In: Dies.: Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin, S. 38 – 56.

Thürmer-Rohr, Christina (2004): Mittäterschaft von Frauen: Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden, S. 85 – 90.

Zitation:
Chiout, Hannelore (2018). 1968 und Frauen in der politischen Bildung. Ein exemplarischer und persönlicher Rückblick, in: Journal für politische Bildung 4/2018, 24-30.

Die Autorin

Dr. Hannelore Chiout, Ger­ma­nistin und Politologin, war 1975 – 2007 Referentin für Kom­missionen und Internationale Bildungsarbeit im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB). Zudem 2002 – 2007 Vorsitzende des Europäischen Bildungsnetzwerkes DARE (Democracy and Hu­man Rights Education in Europe)  

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